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Besprechung

Was hat uns Emilia Galotti heute zu sagen? Lessings bürgerliches Trauerspiel in einer Inszenierung des neuen Intendanten Enrico Lübbe am Schauspiel Leipzig



Ulrich Brandhoff und Anna Keil in Emilia Galotti am Schauspiel Leipzig - Foto (C) Rolf Arnold



Das bürgerliche Mädchen Emilia Galotti liebt den jungen Grafen Appiani und kann diesen auch noch aus freien Stücken ehelichen. Zumindest darf man das annehmen, Gegenteiliges wird in Lessings Trauerspiel nicht angedeutet. Und dennoch will sie durch die Hand des Vaters sterben, um frei zu sein, da es für sie aus den Fängen eines liebestollen, besitzergreifenden Prinzen kein Entrinnen zu geben scheint. Ist das noch zeitgemäß? Würde, wie etwa in Schillers Kabale, dem einen oder anderen Teil des Brautpaares die Verbindung elterlicherseits vorgeschrieben, es sich also um eine Zwangsheirat handeln, man könnte Bände mit der Beantwortung der Frage füllen, was uns diese Emilia Galotti heute noch zu sagen hat.

Bei Lessing sagt sie zum Beispiel folgende Sätze: „Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt.“ Und tatsächlich gerät diese junge Frau ungewollt in einen bedrohlichen Sog aus Verführung und höherer Gewalt, dem sie sich nicht mehr selbst zu entziehen weiß. Weiter heißt es aber auch: „Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.“ Worte, die heute immer noch erschüttern, erkennt sich doch hier eine junge Frau als verführbares und selbst verführendes Wesen, was den damaligen Moralvorstellungen sehr zuwiderläuft. Gleichzeitig kann sie sich aber noch nicht als selbstbestimmt Handelnde verstehen. Kant lässt grüßen, und neben dem Konflikt Bürgertum versus Adel, ist das hier der entscheidende Punkt.


* * *


Um die Frage der selbstbestimmten Liebe geht es dem neuen Leipziger Intendanten Enrico Lübbe aber in erster Linie nicht. Es geht um Menschen, die in schwierigen Stresssituationen die falschen Entscheidungen treffen - so erklärt vom neuen Leipziger Chefdramaturgen Torsten Buß bei einer Stückeinführung anlässlich der zweiten Vorstellung am vergangenen Samstagabend. Und das ist dann natürlich schon sehr gegenwärtig gedacht. Nur von übermäßigem Stress kann dann auf der Bühne kaum die Rede sein, sieht man mal davon ab, dass Lübbe seine Inszenierung in ca. 80 Minuten abhandelt, dabei ständig gezappelt bzw. getänzelt werden muss und dem sonst steifen Marinelli (Michael Pempelforth) irgendwann der Atem über den Verheerungen seiner Intrigen ausgeht. Er reißt sich das Hemd auf und ringt würgend nach Luft.

Und das ist schon das einzig Bemerkenswerte, wie sich dieses Netz aus Intrigen schließlich selbst um seinen eigenen Initiator windet. Schuld an seiner plötzlich auftretenden Atemnot ist die Tatsache, dass ihm hier eine andere Dame über ist. Gräfin Orsina (Bettina Schmidt) ist der Lichtblick der Leipziger Inszenierung. Im blauen Kleid der Hoffnung betritt sie die Bühne, sorgt als einzig Sehende für Aufklärung und bringt dann doch das Corpus Delicti ins böse Spiel. Und hätte es Dramaturg Buß nicht selbst vorher explizit erwähnt, man hätte es eigentlich nur in dieser einen Person wirklich erkennen können. Die Ambivalenz zwischen der enttäuschten Liebe einer betrogenen Verlassenen und dem letzten Aufbäumen einer nach Rache Verlangenden.

Alle anderen Figuren bleiben dagegen entweder völlig blass oder sind bis zur vollen Kenntlichkeit gezeichnet. Vater Galotti (Denis Petkovic) ist zunächst noch mit Worten oben auf, bevor ihm Tochter und Haltung abhandenkommen. Und auch die erst sorglose Mutter (Henriette Cejpek) wird irgendwann verzweifelt ihre Unschuld beteuernd in die Knie gehen. Die Vernachlässigung des Kindeswohls kann man beiden hier aber einzig aus ihrer mangelnden Präsenz auf der Bühne vorwerfen. Graf Appiani (Jonas Fürstenau) ist ganz der Musterschwiegersohn und erlaubt sich nur ein kurzes Nachdenken, als er durch Marinelli vom Ansinnen des Prinzen hört, ihn zum Gesandten zu berufen. Warum Appiani dem nach erfolgter Duellandrohung feige zurückrudernden Marinelli einen leidenschaftlichen Kuss geben muss, bleibt willkürlicher Regieeinfall. Der verführerische Kuss der Macht? Als Marinelli in der Umklammerung des Grafen diesen schließlich erwidern will, wird er nur rüde von Appiani zu Boden gestoßen. Das sich hier zwei in tief empfundener Abscheu gegenüberstehen, bedarf kaum einer näheren Bebilderung.

Der Prinz von Guastalla (Ulrich Brandhoff) wirkt wie ein verzogenes Herrensöhnchen, das es gewohnt ist, unter allen Umständen seine Willen zu bekommen. Barfuß und in legerer Kleidung gibt sich dieser entscheidungsschwache Narziss seine Launen und den falschen Versprechungen Marinellis nur zu gerne hin. Ein Todesurteil tut er mit einem kurzen „Recht gern. - Nur her! geschwind.“ ab. Ein kleines Verbrechen ist für ihn nichts, die größeren überlässt er Marinelli, damit indirekt auch den Mord am Grafen Appiani billigend. Des Prinzen Verführungskunst besteht im Scharwenzeln und Grimassieren. Anna Keil als Emilia im zarten Blütenkleidchen (Kostüme: Michaela Barth) kann dagegen kaum ein Wässerchen trüben. Sie ist als eigentliche Hauptperson die große Fehlstelle einer Inszenierung, die glauben machen will, dass es sich hier um eine in ihren Gefühlen Schwankende handele, die wie um das zu bekräftigen, sehnsüchtig ihr Arme hinter sich streckt und, wie über sich erschreckend, schnell wieder zurückzieht.

Lübbes Inszenierung ist schnell und routiniert hingetuscht. Einen prägenden Stempel vermag er ihr damit jedoch nicht aufzudrücken. 80 Minuten perfekt designtes Theater können auch sehr lang werden. Die Bühne von Hugo Gretler füllt ein anthrazitfarbenes und viel Platz zum Haschen und für Schattenspiele bietendes, eckiges Säulengebilde, das sich fast unaufhörlich dreht. Dazu klingt ungewohnt Klassisches aus der Feder des sonst wummernden Gitarrenspezialisten Bert Wrede. Irgendwann fragt man sich nur noch: „Who kills Bambi?“ Und so blickt hier Emilien auch ziemlich rehäugig ihrem Schicksal entgegen. Allein, zu berühren vermag das nicht. Als einzige freie Tat nimmt sie dem Vater die Waffe aus der Hand und flüchtet sich gefolgt vom Prinzen ins Halbdunkel der hohen Säulen. Odoardo Galotti ist hier entschuldet. In einer angedeuteten Vergewaltigung Emilias durch den Prinzen löst sich im Halbdunkel der Bühne schließlich der erlösende Schuss.




Anna Keil und Ulrich Brandhoff in Emilia Galotti am Schauspiel Leipzig - Foto (C) Rolf Arnold


Bewertung:    

Stefan Bock - 14. Oktober 2013 (2)
ID 7261
EMILIA GALOTTI (Schauspiel Leipzig, 12.10.2013)
Regie: Enrico Lübbe
Bühne: Hugo Gretler
Kostüme: Michaela Barth
Musik: Bert Wrede
Dramaturgie: Torsten Buß und Christin Ihle
Mit: Ulrich Brandhoff, Henriette Cejpek, Jonas Fürstenau, Anna Keil, Maximilian Pekrul, Michael Pempelforth, Denis Petković, Bettina Schmidt und Jonas Steglich
Premiere war am 5. Oktober 2013
Weitere Termine: 18., 27. 10.; 16. 11.; 6., 26. 12. 2013



Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-leipzig.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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