"Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir, mit dem kleinen Hackebeilchen, macht er Hackefleisch aus dir" – DIE HAARMANN-PROTOKOLLE im Fabriktheater Moabit
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Viola Neumann und Claus-Peter Rathjen in Die Haarmann-Protokolle am Fabriktheater Moabit | Bildquelle http://www.fabriktheater-moabit.de
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Die toten Augen von Hannover
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Fritz Haarmann (1879–1925) glaubt, dass Tote sehen können. Deshalb deckt er die Leichen seiner „Puppenjungs“ ab, die er angeblich nach Art der Vampire totgebissen hat. Er zerlegt sie später mit Geschick, „is’ nicht viel, so’n Mensch“, und überlässt sie der Leine, da sie durch Hannover fließt. Haarmann „kloppt“ die Puppenjungs „kaputt“ zu ihrem Besten, sie taugen sowieso nichts. Das vertraut der „Totmacher“ im Vorjahr seiner Hinrichtung dem Gerichtspsychologen Ernst Schultze an. Dessen Gutachten wurde auch von moralischen Grundsätzen und der Staatsräson diktiert. Für den Psychologen hat der Delinquent mit voller Einsicht Grenzen der Gesellschaft überschritten. Claus-Peter Rathjen spielt Schultze als missverstehenden Kommisskopf. Sein Psychologe erscheint kaum wie ein geschulter Geist. Vielmehr stellt er seinen Dünkel aus. Wenn auch das Wort in der Vorstellung nicht fällt, so klingt doch „lebensunwert“ an. Rathjen zeigt einen Mann, der sich seinem sozialen Stand stärker verpflichtet fühlt als der Wissenschaft. Er wirkt nicht besonders interessiert und außerdem eher planlos. Sein Gegenspieler bestimmt den Gesprächsverlauf, Schultze hakt in der Beliebigkeit gelieferter Stichworte nach.
Das macht Rathjen deutlich: da ist keine Empathie und keine Wille zur Forschung und Erkenntnis. Der Psychologe unterstellt Haarmann: „Sie markieren den Idioten.“ Haarmann versteht die Drohung anders als er sollte. Dem Sinn nach antwortet er: Ich will nicht wieder nach Hildesheim. Hildesheim ist Synonym für eine Verwahranstalt, die für Haarmann zum Knast wurde. Nein, Haarmann will lieber geköpft werden. Darauf kommt er immer wieder. Er glaubt, dass nur seine Hinrichtung ihm ein Andenken in der Nachwelt sichern kann. Die Aussicht auf Ruhm lässt ihn mit gutem Appetit essen und ruhig schlafen.
Kein Mensch weiß, wie ausgeschlafen Haarmann in Wahrheit war. Auch Viola Neumann bietet in der Rolle des „Massenmörders von Hannover“ der Ambiguität viel Raum. Sie spielt seine Schlagfertigkeit aus, seinen Witz und die Gerissenheit einerseits. Andererseits zeigt sie einen Somnambulen – einen Außenseiter, der sich selbst für einen tüchtigen Bürger hält. Nach seinen Begriffen hat er Recht und Anstand kaum verletzt. War alles halb so wild. Waren bloß Puppenjungs. Stricher und Trebegänger, die sich am Bahnhof verlaufen hatten.
„Was ist die Hauptstadt von Deutschland?“ fragt der Psychologe. „Wer ist Christus?“ „Können Sie das Vaterunser aufsagen?“ „Wann haben Sie zum ersten Mal gelutscht?“ Schultze geht mit Haarmann das einschlägige Vokabular durch. Es wurde „poussiert“, „poliert“ und „gelutscht“. Dass der Täter seine Karriere als Opfer begann, fällt unter den Tisch. Man geht davon aus, dass Haarmann als Junge von einem älteren Bruder missbraucht wurde.
Zwei Männer, ein Raum. Viola Neumann spielt Dr. Ernst Schultze an die Wand. Schultze regt sich auf: „Ein solches Schwein wie Sie habe ich überhaupt noch nicht gesehen.“
Der Prozess gegen Haarmann ist ein Justizskandal. Jahrelang spitzelte Haarmann für die Polizei, seine Verhaftung wurde verschleppt. Nun muss ein junger Staat seine saubere Weste vorzeigen. Schultze repräsentiert die unsichere Republik allenfalls halbherzig. Sein Selbstverständnis gehört der Kaiserzeit, er ist Untertan aus Leidenschaft. Haarmann düpiert den Ordnungssinn des Gutachters. Dabei stecken in ihm die gleichen Ansichten, das sieht man auf der Fabriktheaterbühne in Moabit. Haarmann sucht die Anerkennung des Bessergestellten. Er schmeichelt, macht Komplimente in diesem Kammerspiel. Viola Neumann setzt ihren Haarmann dem Vorgesetzten förmlich auf die spießigen Schenkel. Schultze wehrt die Zuneigung als Zumutung ab. Er verkörpert das System. Das System trennt sich von Haarmann. Am 19. Dezember 1924 spricht ihn das Schwurgericht Hannover in vierundzwanzig Fällen des Mordes für schuldig und verurteilt ihn zum Tod. Vollstreckt wird dann mit dem Fallbeil.
Auf dem Theater imaginiert Haarmann seine Hinrichtung, er nimmt sie vorweg und malt sie sich so aus: als könnte er aus diesem Akt in den Schoß der Gesellschaft zurückkehren. Das macht Viola Neumann ganz wunderbar, während Claus-Peter Rathjen regelrecht vorlebt, was passiert, wenn Erfahrungen an Grundsätzen zerschellen. Er könnte es besser wissen, wenn er Haarmanns Schuldfähigkeit feststellt. Es könnte aber auch sein, dass Schultze dem kommenden Euthanasiewahn mit Eifer vorauseilt.
Bewertung:
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Jamal Tuschick - 30. November 2013 ID 7410
Weitere Infos siehe auch: http://www.fabriktheater-moabit.de/
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