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9. Januar 2014 - Berliner Ensemble

"DER SPUK IST NICHT VORBEI"

Ein Fest für Heiner Müller


Foto (C) Stefan Bock



Nach dem Tod Heiner Müllers wurden am Berliner Ensemble tagelang fast ununterbrochen die Texte des verstummten Dichters, Dramatikers und Regisseurs gelesen. Am Hause Brechts, das Müller nach der Wende einige Jahre mit leiten durfte und an dem seit fast 15 Jahren Claus Peymann residiert, findet man sich nun im gerade begonnen neuen Jahr zu einer kurzen Wiederbelebung auf Zeit ein. "Der Spuk ist nicht vorbei" - Ein Fest für Heiner heißt der Abend, zu dem Brigitte Maria Mayer, Fotografin und letzte Ehefrau Müllers, anlässlich seines 85. Geburtstags geladen hat. Auf dem Programm stehen Lesungen, Filme und Gespräche, quer verteilt über das Gelände der letzten Wirkungsstätte Heiner Müllers.

Und während auf der großen Bühne des BE Martin Wuttke noch den aufhaltsamen Aufstieg eines von Brecht karikierten „Gröfaz“ gibt - seine Stimme schrillt aus dem Lautsprecher vor dem Kassenfoyer - , füllt sich langsam der zur Heiner-Müller-Bar umfunktionierte Pavillon im Hof. Interessiertes Volk trifft auf geballte Heiner-Müller-Kompetenz. Die Menge wartet auf Ansagen und hält sich mit Getränken bei Laune. Es wird viel getrunken und zu viel geraucht. "Im ächten Manne / ist ein Kind versteckt / das will sterben." Aber wie der Dichter auch schrieb: "der tod ist das einfache sterben kann ein idiot". Derweil beginnt fast unbemerkt der erste Teil des Abends, und endlich strömt dann doch noch alles die Treppe zur Probebühne hinauf.

Oben sitzt man dicht gedrängt und sieht den Meister auf der Leinwand, Whiskey trinkend, Zigarre rauchend. Ein Anblick für sich, wie Genießer Müller das „Lebenswasser“ im Mund abschmeckt und weiße Wölkchen ausbläst. Und natürlich spricht. Wir sehen und hören Heiner Müllers Gespräche mit Filmemacher und Produzent Alexander Kluge. Sorgfältig dokumentiert und aufgearbeitet liegen sie in filmischer und schriftlicher Form vor (http://muller-kluge.library.cornell.edu/de/videos.php). Als des Dramatikers Schreibquell versiegte, begann jener der mündlichen Überlieferung zu sprudeln. Es geht um Politik, das Theater, Macht, Mythen, Wahnsinn und den Tod. Müller spricht davon, dass das Theater die Toten begraben muss. „Unheil muß auf dem Theater solange wiederholt werden, bis dieses Unheil müde wird.“

Die Filme tragen Titel wie Theater der Finsternisse oder Der Tod des Seneca, dem Müller ein langes Prosagedicht widmete und an ihm die vergeblichen Bemühungen der Intelligenz an der Erziehung der Machthaber beschrieb. Er referiert über Mitleid, Genuss, Sucht und den Unterschied zwischen Appetit und Fressgier in der Kunst. Ein anderer heißt Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll. Von der These des antiken Griechenlands, dass es nicht mehr Plätze für Lebende geben kann, als es Tote gibt, schließt Müller darauf, dass es auf jeden Platz in dieser Welt drei bis zwölf Anwärter gibt. Das bedingt wiederum „ein bestimmtes Quantum von Gewalt einzuhalten, damit der Betrieb funktioniert.“ Die realen Auswirkungen sind bekannt.




"Der Spuk ist nicht vorbei" - Ein Fest für Heiner (C) http://www.berliner-ensemble.de



"Die Toten warten auf der Gegenschräge
Manchmal halten sie eine Hand ins Licht
Als lebten sie. Bis sie sich ganz zurückziehn
In ihr gewohntes Dunkel das uns blendet."



So heißt es in DRAMA, einem der vielen Gedichte Heiner Müllers aus dem Jahr seines Todes. Gelesen werden sie von Schauspielern, Kulturschaffenden und einigen Prominenten der Berliner Kunstszene wie Dagmar Manzel, Jenny Erpenbeck, Hermann Beil oder Jürgen Flimm. Leider fast parallel zu den im Rang-Foyer des Haupthauses stattfindenden kleinen szenischen Aufführungen von Fragmenten einiger seiner bekanntesten Stücke, so dass man sich wohl oder übel für eines von beiden entscheiden muss.

Gregor Gysi gibt die Einführung im BE-Foyer. Der gekürte Redner des Jahres liest einen unveröffentlichten Müller-Text, den dieser ihm einst im Wartezimmer seiner Kanzlei geschrieben hatte. Herausgekommen ist bei dieser kleinen Fingerübung aber nicht etwa nur bloße Vorzimmerrhetorik. Besuch bei einem älteren Staatsmann ist ein Text, der es in sich hat und mit der Erkenntnis schließt: „Als Hitler vor Stalingrad der Treibstoff ausging, begann der Golfkrieg.“

Müllers Stücke werden öfter im Ausland gespielt als in Deutschland. Das beweisen bevorstehende Premieren in den USA, Brasilien, den Niederlanden und Italien. Die letzte Müller-Premiere in Deutschland besorgte der kürzlich verstorbene Dimiter Gotscheff mit Zement am Residenztheater München. Im BE-Foyer geben Felix Tittel den Tschumalow und Larissa Fuchs die Polja. Sie will sich nicht abhalten lassen von ihrer revolutionären Pflicht. "Im Fett ersticken wird die Revolution." Leidenschaft gegen das Gebot einer Atempause. Keine Pause gönnen sich Corinna Harfouch mit Sonnenbrille im Rollstuhl und Sabin Tambrea, ein gegelter Beau im Anzug, als Merteuil und Valmont in Müllers Geschlechterdrama Quartett. "Jedes Wort reißt eine Wunde. Jedes Lächeln entblößt einen Fangzahn … Die Schauspielkunst der Bestien." Gedoppelt, Rücken an Rücken, im großen Spiegel des Saales.




Corinna Harfouch in Quartett von Heiner Müller - Foto (C) Stefan Bock



Eher stoisch und pragmatisch tragen die Herren Hermann Beyer, Robert Gallinowski und Thomas Quasthoff als Debuission, Galloudec und Sasportas sitzend ihren Auftrag vor. "Unser Platz ist der Käfig, wenn unsere Masken reißen vor der Zeit." Als stolzes Dreigestirn der Weiblichkeit treten danach Andrea Hanna Hünniger, Else Buschheuer und Olga Grjasnowa in der Hamletmaschine auf. "Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr … Nieder mit dem Glück der Unterwerfung." Und der junge Christian Sengewald ist last but not least ein einsamer Argonaut in den Weiten der leeren, grünen Klappstuhllandschaft des Berliner Ensembles. "JEDES STUHLBEIN LEBT EIN HUND … DO YOU REMEMBER DO YOU NO I DONT"

Wem das alles zu hochtrabend oder pathetisch ist, lässt sich in der Müller-Bar im Pavillon des BE einfach von Anekdoten und Schnurren seiner Mitstreiter und Wegbegleiter unterhalten. Unter ihnen Frank Hörnigk, der Herausgeber der Heiner-Müller-Werkreihe, der Dokumentarfilmer Thomas Heise und der Berliner Dramatiker Lothar Trolle. Draußen im Hof schrecken nach 23 Uhr noch einmal kurz Polizeisirenen das versammelte Müller-Volk aus der nostalgischen Schwärmerei. Ein armer Geiger will einem berühmten Konzertpianisten sein Herz zu Füßen legen. Nur dass er es sich allein nicht aus der Brust zu reißen vermag. Herzstück ist das Satyrspiel des Heiner-Müller-Marathons. BE-Oldie Roman Kaminski und Jungstar Sabin Tambrea spielen es. Bei der nun folgenden Notoperation am offenen Herzen kommt schließlich ein Ziegelstein zum Vorschein. "Aber es schlägt nur für Sie." ist der Ausruf des unbeirrten Bewunderers.




Herzstück von Heiner Müller am BE - Foto (C) Stefan Bock



Müllers Herzkranzgefäss hat dem Sturm der Jahre zu trotzen gewusst. "Gewitter im Gehirn Blei in den Adern / Was du nicht wissen wolltest ZEIT IST FRIST." Diese Frist war am 30. Dezember 1995 endgültig abgelaufen. Die Nacht im Hof des BE ist mild, nur hier und da ein paar verirrte Regentropfen. "TRÄNEN SIND UNPHILOSOPHISCH / DAS VERHÄNGTE MUSS ANGENOMMEN WERDEN - Und der aufkommende Wind weht es weiter.


Stefan Bock - 12. Januar 2014
ID 7499
DER SPUK IST NICHT VORBEI (Berliner Ensemble, 09.01.2014)
Künstlerische Leitung: Brigitte Maria Mayer
Mit Schauspielern, Schriftstellern, Politikern, Kollegen und Weggefährten


Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-ensemble.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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