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nachDRUCK # 6

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In memoriam

Heidi Hoh arbeitet

hier nicht mehr

Ein Nachruf auf den am Montagmorgen plötzlich und unerwartet gestorbenen Dramatiker, Regisseur und Volksbühnen-Intendanten René Pollesch (1962-2024)



René Pollesch hat das Internet ins Theater gebracht, als noch keiner wirklich über Netz und Theater nachdachte. Sein Stück Heidi Hoh, 1999 als Produktion im Rahmen des Performancefestivals „reich & berühmt“ im Berliner Podewil uraufgeführt, behandelt die räumliche und emotionale Entfremdung des Individuums durch häusliche Telearbeit im neoliberalen Kontext. Für Heidi Hoh, eine Telearbeiterin bei Daimler Chrysler, verschwimmen Privates (Offline) und Arbeit (Online) miteinander. Auch für René Pollesch bestand kaum ein Unterschied zwischen Arbeit und Privat, und die besten Inspirationen kamen für ihn schon lange aus den sozialen Medien, in denen er mit kleinen denkwürdigen Twitter-Nachrichten, die (nun auf X) wieder geteilt werden, die Theaterbubble verblüffte.

Der moderne globale Internet-Nomade betrat mit Pollesch erstmals die Theaterbühne und teilte seine Befindlichkeiten in schnellen, oftmals absurd erscheinenden Diskurs-Schleifen mit anderen Individuen, die man aber als in einem nachvollziehbaren Plot handelnde Figuren nicht mehr wirklich unterscheiden konnte. Angereichert mit theoretischen Textsplittern aus philosophischen oder soziologischen Abhandlungen und seinen meist nur lose an Figuren aus Filmen oder Romanen angelegten ProtagonistInnen entwickelte Pollesch ein politisches Theater zwischen Boulevard und theatralem Popkonzert. Der Popmusiktheoretiker Diedrich Diederichsen verglich 2005 die flexibel an verschiedenen deutschsprachigen Theatern zusammengestellten Pollesch-Kollektive auch mit „Jazz-Combos“. Das kann man sich ungefähr so vorstellen, dass Pollesch die Noten (sprich den Text) zur Probe mitbrachte und das Ensemble mit eigenen Ideen zu jammen begann, bis das Stück fertig war.

Das soll nun endgültig vorbei sein? Man will noch immer nicht so recht daran glauben. Aber wie die Berliner Volksbühne am Montag mitteilte, ist der Dramatiker, Regisseur und Volksbühnen-Intendanten René Pollesch „plötzlich und unerwartet im Alter von 61 Jahren gestorben“. Das zu begreifen, wird nicht nur für Freunde seiner einzigartigen Theaterkunst einige Zeit dauern. Sind für die einen Polleschs Diskurs-Tiraden immer noch reines Theaterglück, war das darin verwurstete Theoriematerial für manche Kritiker nur „Schwemmmasse zwischen durchgeknallten und quasselnden Lustspielgestalten“ (so der Morgenpost-Kritiker Peter Hans Göpfert 2009 über die Uraufführung des Stücks Ein Chor irrt sich gewaltig an der Berliner Volksbühne). Fast 15 Jahre später klingt das fast schon wieder wie ein verzweifeltes Lob. Man wird sie missen, die ewig Quasselnden, zu denen so große Mimen wie Sophie Rois, Caroline Peters, Martin Wuttke oder Fabian Hinrichs gehören.

Die Liste ist mittlerweile sehr lang, und Polleschs Theater wäre nichts ohne die Anfänge mit Nina Kronjäger, Christine Groß und Claudia Splitt als durchgeknalltes Heidi-Hoh-Trio. Zum erweiterten Pollesch-Kosmos zählen u.a. auch Kathrin Angerer, Franz Beil, Inga Busch, Benny Claessens, Marc Hosemann, Mira Partecke, Milan Peschel, Tristan Pütter, Alexander Scheer, Bernhard Schütz, Volker Spengler, Rosa Tietjen, Daniel Zillmann und nicht zu vergessen die stets präsenten Text-Souffleusen. Pollesch und seine Teams arbeiteten sich auch immer ironisch an überkommenen Theaterformen und Problemen der Repräsentation ab. Der von ihm geprägte Ausdruck der „authentischen Kuh“ beschäftigt sicher auch weiter ganze Matrikel von Studierenden der Theaterwissenschaften. Seine zum Teil recht kuriosen Stücktitelschöpfungen werden allerdings ihresgleichen kaum finden können.

René Pollesch studierte in den 1980er Jahren am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen und führte bereits dort kleine Soaps auf der Probebühne auf. Bis ihm 2001 der Durchbruch am Volksbühnen-Prater in Berlin gelang, war es da noch ein weiter Weg, der den jungen Dramatiker über das TAT in Frankfurt, ein paar Stipendien und eine gewisse Zeit, in der sich Pollesch als Übersetzer von Stücken des britischen Dramatikers Joe Orton (Beute und Was der Butler sah) durchschlagen musste, erst mal als Hausautor 1999 ans Theater Luzern und 2000 an das Deutsche Schauspielhaus Hamburg führte. Dem Bühnenbildner Bert Neumann und der Schauspielerin Sophie Rois ist es zu verdanken, dass Pollesch mit der Fortsetzung seiner Heidi Hoh-Trilogie schließlich am Prater landete und dann auch die Nebenspielstätte der Volksbühne von 2001 bis 2007 leitete.

Die Jahre am Prater kann man rückblickend durchaus als Polleschs kreativste und produktivste Zeit bezeichnen. Man war gefühlt jede zweite Woche in der Spielstätte in der Kastanienalle, die in einer Produktion der Performance-Gruppe Gob Squad auch schon mal zur „Casting-Allee“ wurde. Pollesch führte hier nicht nur eigene Stücke wie die legendäre Prater-Trilogie (2001/2002 beim Theatertreffen) und die Prater Saga (2004-2005) auf, sondern gab auch anderen aus dem Gießener Umkreis wie She She Pop oder Rimini Protokoll, eine Bühne. Das Publikum drehte sich elektrisiert auf Bürostühlen zwischen den offenen Wohnfronten von Bert Neumann oder lungerte entspannt auf Sitzkissen.

Ab Mitte der 00er Jahre war Pollesch mit seinen Stücken an Bühnen in Hamburg, München, Stuttgart, Wien und Zürich präsent. Ab 2007 bespielte er auch die große Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz, woran man sich als langjähriger Praterbewohner erst mal gewöhnen musste. Mit Fabian Hinrichs und Ich schau dir in die Augen - gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang hielt dann 2010 auch ein neuer, viel ruhigerer aber auch bestimmter Ton in Polleschs Stücken Einzug. Die Themen mit denen das Duo Pollesch/Hinrichs das Publikum beglückte, schnitten tieferer in die gestörten Gefühlswelten des einsamen Individuums, dem meistens wie schon bei Sophie Rois ein Chor an die Seite gestellt wurde. Das brachte dem zweifachen Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises (2001/2006) mit Kill your Darlings! Streets of Berladelphia (2012) auch wieder eine Einladung zum Theatertreffen.

Diese ganz besondere Beziehung der beiden hielt auch über das künstlerische Exil Polleschs am Deutschen Theater nach der folgenschweren Entthronisierung des Volksbühnenintendanten Frank Castorf. Erst vor zwei Wochen hatte ihre letzte gemeinsame Produktion Pollesch ja nichts ist ok Premiere. Nach zwei eher erfolgs- und belanglosen Zwischenlösungen (Chris Dercon, Klaus Dörr) war da René Pollesch mit Unterstützung von ehemaligen Volksbühnen-Strategen wie Martin Wuttke, Kathrin Angerer und Sophie Rois bereits die dritte Spielzeit selbst Intendant am Haus. Diese Intendanz ist nun auf traurige Weise wieder vakant. „Warum konnten wir uns nichts mehr sagen. Ja, ich weiß, du hast es versucht. Du hast mich mit deinem Motorroller verfolgt und wolltest mich sprechen und ich hab gewendet und woanders eingeparkt in das Nichts, in den Tod, keine Ahnung.“ Diesen melancholischen Text spricht Martin Wuttke im Stück Schmeiß dein Ego weg! (2011). Man wird noch eine Weile an der Volksbühne vorbeigehen und denken: „René Pollesch arbeitet hier nicht mehr.“ Es ist nun an der Volksbühnentruppe, sein Erbe anzutreten und die Arbeit fortzusetzen.

Dafür viel Kraft - und sei es nur bis ans Ende dieser Spielzeit.




René Pollesch | Foto (C)Bahar Kaygusuz

Stefan Bock - 28. Februar 2024
ID 14638
Wikipedia-Link zu René Pollesch


Post an Stefan Bock

In Memoriam

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