Neue Facetten
eines alten
Märchens
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Mélanie André mimt die dunkle Königin in Snow White and the Dark Queen von Stéphen Delattre | Foto © Klaus Wegele/ Delattre Dance Company
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Bewertung:
Inniglich und selbstvergessen tanzen drei junge Frauen (Marika Andrioli, Perla Kedhi, Angela Piotto). Schlangenhaft bewegen sich am Boden vor deren Füßen voll vermummte, unförmige dunkle Körper (Alice Balliano, Vojtěch Pilbauer). Diese Körper greifen bald eine der jungen Frauen nach der anderen. Sie bringen sie zu einer gebückt gehenden, kraftlosen alternden Königin (Mélanie André). Die Königin kommt den jungen Frauen näher, entzieht ihnen ihren Atem und durch Zauberei auch jedwede Energie. Sie erstarkt, während die jungen Frauen leblos und schlaff am Boden liegen bleiben. Eine solche Szenenfolge verbinden wir in der Regel mit Vampirgeschichten, nicht mit dem Märchen Schneewittchen.
Der Mainzer Ballettdirektor Stéphen Delattre setzt bei seinem Stück Snow White and the Dark Queen Neuerungen im Stoff der Gebrüder Grimm um. Delattre folgt einer älteren Überlieferung von Grimms Märchen, wenn er die dunkle Königin als die biologische oder leibliche Mutter von Schneewittchen zeigt, nicht als ihre Stiefmutter. Der Kampf zwischen Mutter und Tochter erscheint so durchaus psychologisch komplexer und abgründiger. Im Fokus der Inszenierung liegt die neidische und egozentrische Figur der Mutter, die nicht altern möchte und besessen von Jugend und Schönheit scheint. Getrieben von Eifersucht, Verzweiflung und Angst lehnt die dunkle Königin ihre eigene Tochter ab.
Dreizehn Tänzer beleben während des Handlungsballetts in ausdrucksvollen und dramatischen Rollen die Bühne des Frankfurter Gallus Theaters. Sie tanzen klassisch auf Spitze, setzen aber auch moderne Akzente. Sounddesigner Davidson Jaconello collagiert dazu eingespielte klassische orchestrale Musik mit zeitgenössischen Klängen und sphärischem Gesang. Johanna Ide fertigte viele aufwendige Kostüme für die Produktion. Die italienische Kostümdesignerin Adriana Mortelliti stimmte einige Kostümwechsel während der etwa 90-minütigen Aufführung ab, insbesondere für die Königin.
Es gibt nur wenige Requisiten auf der von Martin Opelt sparsam gestalteten Bühne. Auf fünf, jeweils etwa drei Meter hohe Leinwände werden Bilder für den Bühnenhintergrund projiziert. Diese opulenten Bewegtbilder schaffen eine räumliche Atmosphäre. Réne Zensens Videoprojektionen muten zu Anfang ein bisschen kitschig an, wenn das Schloss und der dazugehörige Garten von Schneewitchens Eltern an Disneyworld erinnern. Schnell wird das Setting jedoch düsterer und unheimlich. Effektvoll schwirren an den Fenstern des Palastraums der dunklen Königin unzählige Krähen oder Raben kreischend vorbei.
Die Französin Mélanie André, langjährige Solistin der Kompanie, gestaltet die forsche Regentin facettenreich, resolut und sehr beweglich. Der König (Antonio Gallego) ist der gemeinsamen Tochter Schneewitchen im Gegensatz zu ihr sehr zugetan. Wenn sich Gallego vor der dunklen Königin und ihren voll vermummten Dienern noch einmal mehrfach aufbäumt, sind das große Theatermomente. Die Königin sperrt ihren Gatten durch Zauberei gegen seinen Willen in einen Spiegel ein. Der Spiegel scheint bei Delattre als Leitmotiv angelegt und stellt eine dunkle Seite der Seele dar. Er wird während der Aufführung mehrfach personifiziert, wenn Antonio Gallego nun als Ego der Königin voll vermummt durch den sich öffnenden Spiegel tritt und ihr auf ihre Fragen nicht die von ihr gewünschten Antworten gibt.
Während wechselnder Formationen und Paartanzmomente auf einem höfischen Ball huldigt das Ensemble fein koordiniert der Königin. Die Königin beauftragt den athletisch und gewandt auftretenden Jäger (Melchior Decitre) ihre Tochter tief in den Wald zu führen. Schneewittchen, feinfühlig und einfühlsam getanzt von der Kanadierin Clare Butler, begreift früh, dass ihre Mutter sie nicht mag. Während der Szene im Wald muten die Paardynamiken zwischen dem Jäger und Schneewitchen anfangs wie Kampfkunst an, ändern sich jedoch bald zu vorsichtigem Paartanz. Schneewittchen entkommt, und der Jäger findet sich nun in einer Höhle wieder, in der ihm acht sterbende Seelen mit hellen Tüchern über Kopf und Körpern begegnen. Die Akteure bewegen sich in dieser Szenerie reizvoll synchron. Der Jäger tötet eine der Seelen. Gleich darauf gibt es eine düstere Szene, wenn die Königin das vom Jäger gebrachte Herz der Seele verspeist, von dem sie glaubt, dass es das Herz ihrer Tochter ist. Auch die Figuren der Zwerge konzipierte Delattre als sieben Freaks neu. Diese betreten nach einer Pause im zweiten Teil heiter, locker und flink mit karnevalesken Kleidungsaccessoires und kleinen Laternenlampen ausstaffiert das Geschehen.
Die Videoprojektionen sind teilweise ein bisschen störend und ablenkend, da sie mitunter auf den Körpern der Tänzer liegen. Leider folgt die Bebilderung auch etwas zu sehr einer irrealen Märchenlogik. So scheinen die Jahreszeiten etwas konfus und durcheinander geraten. Wir sehen im Hintergrund Eis und Schneeanhäufungen und später Raureif, während Schneewitchen und die sieben Freaks leicht bekleidet und ohne Decken im Wald schlafen. Einige Szenen später schwirren beim Erwachen Schneewittchens unzählige Schmetterlinge über die Leinwände.
Der Wunsch nach Schönheit oder Perfektion und die Angst vor dem Verlust von Attraktivität ist heute sehr präsent. Somit erscheinen neue Versionen des Märchens weiterhin aktuell. Stéphen Delattre, der selbst zwölf Jahre Solotänzer an verschiedenen Theatern war, inspirierte der US-amerikanische Fantasyfilm Snow White and the Huntsman (2012), der auch die Figur der bösen Königin aufwertete. Der französische Choreograph schuf ein körperlich dynamisches, spannungsvolles und leidenschaftliches Tanztheater, in dem oft Bewegungen direkte Emotionen ausdrücken und so den Figuren eine Verletzlichkeit und Tiefe verleihen.
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Snow White and the Dark Queen mit der Delattre Dance Company | Foto © Klaus Wegele/ Delattre Dance Company
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Ansgar Skoda - 10. Dezember 2025 ID 15601
SNOW WHITE AND THE DARK QUEEN (Gallus Theater, 07.12.2025)
Choreografie, Dramaturgie, Libretto und Lichtdesign: Stéphen Delattre
Musikarrangement: Davidson Jaconello
Kostümedesign: Adriana Mortelliti
Kostümanfertigung: Johanna Ide
Videoprojektion: Réne Zensen
Bühnenbild: Martin Opelt
Mit: Mélanie André, Alice Balliano, Morena Brunetti, Jasmijn Gorter, Iori Miura, Zofia Wara-Wasowska, Laurie Pascual, Melchior Decitre, Antonio Gallego, Vojtech Pilbauer, Florian de ToroSola, Riccardo Scabbio und Christian Lamanna
UA in den Mainer Kammerspielen: 23. Januar 2025
Weitere (Mainzer) Termine: 24., 25., 26.02.2026
Weitere Infos siehe auch: https://delattredance.com
Post an Ansgar Skoda
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