Gibt es nichts
mehr zu
sagen?
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Imagine von Alexander Kerlin, Kay Voges und Ensemble | Foto © Marcel Urlaub
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Bewertung:
Kay Voges (seit dieser Spielzeit neuer Schauspieldirektor in Köln) kürzte mit seinem Team die Vokale aus dem Corporate Logo. Der Schriftzug lautet fortan in Großbuchstaben SPL KLN. Hier fehlen Vokale, auf der Bühne fehlt nun sogar das gesprochene Wort. Anscheinend strich die Regie mögliche Texte aus Produktionen - wie nicht nur in Rabatz!. Angekündigte englische Übertitel im Eröffnungsstück für das neue Ensemble, Imagine, sind so ein Schwindel. Es wird in der gesamten Produktion nicht gesprochen. Alexander Kerlin, Kay Voges und Ensemble setzen dafür auf laute Rhythmen und Musik.
Das aufwendige und detailreiche Bühnenbild von Pia Maria Mackert zeigt eine Häuserlandschaft mit einer kleinen Kirche im Zentrum. Im Vordergrund fährt regelmäßig neben einem Fußweg eine Kamera entlang. Diese projiziert auf zwei Großbildschirmen rechts und links oberhalb der Bühne Live-Eindrücke, auch vom teilweise nicht für das Publikum sichtbaren Innenleben in den Bauwerken. Die Kamera projiziert auch Bilder aus nur schemenhaft erahnbaren Anbauten im Hintergrund, wie etwa aus einem Gewächshaus. Zu Beginn geht eine Frau (Lavinia Nowak) von links nach rechts und dreht sich dabei, wie in Gedanken, zur Kamera. Sie öffnet eine Haustür und fährt die Innenjalousien hoch. In ihrem büroähnlichem Setting begegnet sie einigen bedeutungsvoll miteinander schweigenden Figuren. In einem anderen Haus kleiden sich zwei ältere Herren an, der eine (Andreas Beck) drückt dem anderen (Thomas Dannemann) Geldscheine in die Hand. Diese Szenenabfolge wiederholt sich in veränderter Weise und mit neuen Akzentsetzungen dreimal.
Andeutungsreiche Bewegungen und Gesten schaffen in einem diffusen und düsteren Gewimmel mit etwa zwanzig Akteuren Eindrücke und Assoziationen. Es kommt zu allerlei Gruseleffekten. Figuren hantieren so mehrfach bedrohlich mit Hämmern in unterschiedlichen Größen oder mit einer Kettensäge. Ein nach Fleisch lechzender Mann (Frank Genser) befindet sich in einem Raum, in dem ein geschlachtetes Schwein hängt. Die Kamerafahrt zeigt ihn mit einem gezückten Messer, das er an einer Hauswand entlang schrabbt. In einer späteren Szene trägt diese Figur statt des Messers einen Brief. Bald wird ihr in einer Häuserecke von einem jungen Mann (Fabian Reichenbach) ein mit Decken umwickeltes Baby übergeben.
Zu Beginn meint man als Theaterbesucher noch, es werde eine beginnende Verrohung und Gewaltbereitschaft der Gesellschaft vor Augen geführt. So liegen kurzzeitig Personen regungslos am Boden. Ein zusammengebrochener älterer Herr (Uwe Schmieder) wird liegen gelassen und später von anderen Männern entkleidet und beraubt. Das Raubgut wird weitergegeben. Vorbeikommende steigen über den Mann einfach drüber, ohne ihn weiter zu beachten. Eine Frau (Sarah Sandeh) legt eine Decke über ihn, ein anderer Passant nimmt diese Decke wieder weg. Herumstehende (Anja Laïs, Louisa Beck) gucken bedeutungsvoll.
Später erwacht eben dieser ältere Herr. Er wird von verwunderten Passanten vom Boden emporgehoben. Nur noch mit einem Herrenslip bekleidet wird er wie ein Wunder in die Kirche getragen. Sein Haupt wird mit einem Blumenkranz bedeckt. Kirchgänger betrachten ihn scheinbar wie den Wiederauferstandenen. Während sie den „Leib Christi“ von einem Geistlichen (Leonhard Hugger) in Form von Lollys empfangen, berühren sie verzückt den älteren, wenig bekleideten Herrn. Er, aber auch die Gemeinde, ziehen dabei skurrile Grimassen, während über die immer wilder werdende Raserei vom Pfarrer ein Weihrauchfass geschwenkt wird. Wird hier an Allerseelen, so der Abend der Vorstellung, einmal mehr die katholische Kirche kritisiert, indem ihre Rituale und die Praktiken gläubiger Menschen der Lächerlichkeit preisgegeben werden? Solche Bilder sind nicht nur geschmacklos, sondern auch feige, denn natürlich und auch zurecht würde sich das Schauspiel Köln niemals trauen, Rituale des Islams oder gar des Judentums zu verulken. Eine derartige Mohammed-Darstellung würde, gerade im von Muslimen stark frequentierten Stadtteil Köln-Mülheim, auf heftige Gegenwehr stoßen, und Derartiges bezogen auf das Judentum hätte spätestens am Folgetag Voges neue Intendanz beendet. Prompt ertönt im Haus der Kirche auch noch „Alors on danse“ von Stromae. Die Choreographie wandelt sich zu einer Orgie und einer dann doch sehenswerten Tanzperformance, bei der insbesondere Jonas Dumke, Paula Carbonell Spörk und Nikolaus Benda mit temporeicher Dynamik hervorstechen (Choreographie: Berit Jentzsch).
Die diffus bleibende Handlung, in der verwirrend viele Figuren bald Soldatenuniformen tragen (Kostüm: Mona Ulrich), wird danach immer abstruser. Ein eventuelles Kriegsgeschehen oder eine gesellschaftliche Disruption werden vorsichtig angedeutet. Ein potentieller Kriegsheimkehrer (Paul Grill) bricht am Weg weinend zusammen, pinkelt in ein Planschbecken und verfolgt eine junge Frau (Rebekka Biener). Stimmungsvolle Popsongs sollen die Begebenheiten mit Pathos oder Bedeutsamkeit aufladen, wir hören „Alone“ von The Cure, „Gobbledigook“ von Sigur Ros und „Armenia“ von den Einstürzenden Neubauten. „Personal Jesus“ von Depeche Mode oder „Who by fire“ von Leonard Cohen wurden von Tommy Finke für die Produktion bearbeitet. Sie werden neben eigenem, noch unveröffentlichtem Material vom Musik- und Sounddesigner Finke eingespielt.
Am Ende sehen wir auf einer Videoprojektion eine ältere Dame (Anke Zillich) ein Apfelstück ausspucken. Sie trägt ein Schneewittchen-Kostüm im Stil des Walt-Disney-Zeichentrickfilms und singt mit gebrochener Stimme „Imagine“ von John Lennon und Yoko Ono. Im Backgroundchor werden zwei Sängerinnen im Zwergenkostüm sichtbar, für die sieben Zwerge hat es wohl nicht gereicht, warum auch?
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Imagine von Alexander Kerlin, Kay Voges und Ensemble | Foto © Marcel Urlaub
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Der Titel Imagine ist für ein Theaterstück durchaus reizvoll. Im Programmheft ist zu lesen, dass der Begriff „Vorstellung“ im dreifachen Wortsinne gemeint ist: als Theateraufführung,
sich jemandem vorstellen, als Imagination.
Besonders hinsichtlich der zweitgenannten Bedeutung ist es doch sehr fraglich, wie es gelingen kann, wenn sich der neue Intendant und zwei Drittel des Ensembles dem Publikum in einem Theaterstück vorstellen, ohne das jemand auch nur ein Wort spricht. Soll es auch der imaginativen Vorstellungskraft des Publikums überlassen werden, sich diese Vorstellung vorzustellen?
Aber auch für Imagination bietet die rasche Abfolge, die laute Musik und Bildmächtigkeit wenig Chancen und Perspektiven. Zwar erinnert die Performance immerhin an stilisierte Bilder von Bill Viola, Edward Hopper, David Hockney oder Lars von Triers Dogville, doch scheinen inhaltlich nur einige Schlagworte und Mutmaßungen auf. Die Inszenierung bedient Allgemeinplätze und oberflächliche Klischeevorstellungen und wird damit insgesamt eher zu einem Abgesang auf die Imagination. Im Kontrast dazu wird heute, über ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung, die inspirierende Kraft des Songs „Imagine“ am Ende des Stücks um so deutlicher spürbar.
Es bleibt der Eindruck einer vierten Bedeutung des Wortes „Vorstellung“. Nämlich die Substantivierung davon, etwas vor etwas anderes zu stellen. Vor das Ensemble gestellt wurde eine Blase lauter Popsongs, zwei fahrbare Kameras mit großen Monitoren, Bühnennebel und raumgreifende Kulissen.
Hier wurde nichts gesprochen. Es wurde aber auch nichts gezeigt, als hätte man nichts mehr zu sagen in Anbetracht einer Welt, die uns immer mehr die Sprache verschlägt.
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Ansgar Skoda - 4. November 2025 ID 15545
IMAGINE (Depot 1, 02.11.2025)
von Alexander Kerlin, Kay Voges und Ensemble
Regie: Kay Voges
Bühne: Pia Maria Mackert
Kostüm: Mona Ulrich
Videoart: Mario Simon und Jan Isaak Voges
Musik und Sounddesign: Tommy Finke
Lightdesign: Michael Gööck und Tim Borner
Ton: Oliver Bersin und Antony Fitz-Harris
Choreografie: Berit Jentzsch
Creative Coding (KI): Max Schweder
Dramaturgie: Alexander Kerlin
Mit: Andreas Beck, Louisa Beck, Nikolaus Benda, Rebekka Biener, Thomas Dannemann, Jonas Dumke, Frank Genser, Paul Grill, Benjamin Höppner, Leonhard Hugger, Anja Laïs, Lavinia Nowak, Fabian Reichenbach, Uwe Rohbeck, Sarah Sandeh, Uwe Schmieder, Steffen Siegmund, Paula Carbonell Spörk und Anke Zillich sowie den Live-Kameramännern Mario Simon und Jan Isaak Voges
UA am Schauspiel Köln: 26. September 2025
Weitere Termine: 14., 31.12.2025// 10., 11., 26., 27.02.2026
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln
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