Furchtbar
romantisch
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Mitja Over als Nathanael und Tanja Merlin Graf als Clara in Der Sandmann nach E.T.A. Hoffmann - am Schauspiel Frankfurt | Foto (c) Birgit Hupfeld
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Bewertung:
„Ach“ - dieser eine knappe Ausruf kann so vieles ausdrücken und noch viel mehr erahnen lassen. Er kann für die Verwunderung über etwas stehen, das man gerade entdeckt hat oder dem man allmählich auf die Spur kommt. „Ach“ kann ein Seufzen unter einer Last sein. Es kann eine angenehme Überraschung bis hin zu tiefer Enttäuschung ausdrücken. Oder es ist nur ein einfacher Laut eines gepressten Ausatmens, wie ihn schon Maschinen lange vor dem digitalen Zeitalter ausstoßen konnten...
Kleine Bedeutungsunterschiede einfacher Worte schaffen in der Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann Spannung. Die literarisch wegweisende phantastische Erzählung über einen umherirrenden jungen Mann wird immer wieder neu für die große Bühne entdeckt. Seit Mai diesen Jahres zeigt das SCHAUSPIEL FFANKFURT eine beachtliche Inszenierung von Lilja Rupprecht.
Es ist die sogenannte Schwarze Romantik, nächtliche Schauergeschichten, welche die Epoche der Romantik (ca. 1795–1848) einleitete. Heute wird diese Zeitperiode oft als literarische Sehnsucht nach dem Unbestimmten gedeutet. In Der Sandmann geht es um den Schrecken über das unbestimmte Entsetzliche hinter nicht ausreichend erklärten Vorgängen. Gleich zu Beginn holt uns Mitja Over, der anfangs den Heranwachsenden Nathanael verkörpert, als Erzähler mit in die Betrachtung der Innenwelt seiner Figur. Er veranschaulicht dem Publikum mit aufgeregten Monologen, gestisch und mimisch ausdrucksstark, wie seine Figur einen Zusammenhang in der vielleicht auch nur scheinbar bedrohlichen Welt der Eltern zu verstehen versucht.
Christina Schmidts Bühne eröffnet den Blick auf eine zweistöckige Wohnung mit Wendeltreppe, in der sich verschiedene Figuren bewegen. Später werden mittels Live-Video (von Moritz Grewenig) Projektionen auf Leinwände in Echtzeit generiert und teils durch KI verfremdet, wodurch mögliche Grenzen zwischen Realität und Albträumen angedeutet werden. Es sind starke, oft abstrakte Visualisierungen, welche die Inszenierung und den hier schwelenden existentiellen Konflikt spannungsvoll unterstreichen. Unterstrichen wird die dunkle Szenerie durch dezente, altmodisch anmutende Kostüme in Schwarz-Weiß von Annelies Vanlaere, eine atmosphärische Live-Musik von und mit Philipp Rohmer und gesangliche Akzentsetzungen durch einzelne Akteurinnen.
Es gibt ein mögliches unheimliches Geschehen zwischen dem schweigsamen Vater (Sebastian Kuschmann) und dem finsteren Advokaten Coppelius (Matthias Redlhammer). Nathanael wird von seiner Mutter (Heidi Ecks) mit den Worten, der Sandmann komme, zu Bett geschickt, sobald Coppelius eintreffen könnte. Die Bedeutung der Zusammenkünfte vermag Nathanael nicht zu ergründen. Sie nehmen jedoch immer mehr Raum in seiner Gedankenwelt ein, bis hin zur Besessenheit. Er wird mit seinem Unwohlgefühl alleingelassen, und seine Geduld wird strapaziert. Die Amme (Matthias Redlhammer) erzählt ihm sogar Schauermärchen, bei denen der Sandmann unartigen Kindern mit Sand die Augen ausreißt und seine Kinder damit füttert.
Ein kindlicher Blick auf die Welt wird hier mit der Gefahr konfrontiert, dass etwas Schreckliches dem eigenen wissbegierigen Sehorgan geschehen kann. Die Neugier Nathanaels wandelt sich so allmählich zu einer Angst. Diese Angst bricht dann, als der Vater plötzlich stirbt, in ein folgenschweres Entsetzen aus. Er wagt es kaum seinen Augen zu trauen: Der erwachsene Nathanael glaubt Coppelius, den er für den Mörder seines Vaters hält, in der Person des Wetterglashändlers Coppola (Matthias Redlhammer) wiederzuentdecken. Er verliebt sich in dessen musizierenden Automaten Olimpia (Manja Kuhl) und vernachlässigt dabei die eigene Geliebte Clara (Tanja Merlin Graf). Bald deutet sich eine Schizophrenie in Nathanael an, vielleicht aufgrund der erlittenen Traumatisierung in der Kindheit. Es kommt zu einem Unglück.
Großformatige Augen bevölkern bald die Bühne. Während der Aufführung prüft Nathanael mehrfach seinen Blick. Dabei verweist die Inszenierung auch auf unsere moderne, durch KI gesteuerte digitale Welt, wenn sich Nathanael eine VR-Brille aufsetzt.
Rupprecht stellt in ihrer liebevoll und detailreich gestalteten Inszenierung große Fragen: Wie prägt unsere Wahrnehmung unsere Wirklichkeit? Könnte das Leben vielleicht ein großes Experiment sein? Auf das Heute bezogen gibt es ja bereits bekannte Phantasien, die unser Leben wie in einer Computersimulation wiedergeben.
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Der Sandmann am Schauspiel Frankfurt | Foto (c) Birgit Hupfeld
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Ansgar Skoda - 22. Dezember 2025 ID 15621
DER SANDMANN (Schauspielhaus, 19.12.2025)
Regie: Lilja Rupprecht
Bühne: Christina Schmitt
Kostüme: Annelies Vanlaere
Live-Video (KI): Moritz Grewenig
Live-Musik: Philipp Rohmer
Choreografie: Raimonda Gudavičiūtė
Dramaturgie: Katrin Spira
Licht: Frank Kraus
Mit: Mitja Over, Sebastian Kuschmann, Heidi Ecks, Tanja Merlin Graf, Manja Kuhl und Matthias Redlhammer
Premiere am Schauspiel Frankfurt: 23. Mai 2025
Weitere Termine: 27.12.2025// 16.01.2026
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielfrankfurt.de
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