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Premierenkritik

"Vielleicht,

vielleicht..."

Sebastian Hartmann lädt im Deutschen Theater Berlin zu einem Existentialismus-Tänzchen


Der Einzige und sein Eigentum am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair

Bewertung:    



Max Stirner (1806-1856), mit bürgerlichem Namen Johann Caspar Schmidt, ist ein eher unbekannter deutscher Philosoph, dem aber eine große Wirkung auf andere wie etwas Marx, Engels, Nietzsche oder einige Vertreter des Anarchismus nachgesagt wird. Stirner gilt als Vertreter des „ethischen Egoismus“, dessen Maxime „Mir geht nichts über Mich“ (ein von Goethe entlehnten Zitat) in etwa bedeutet, sich in seinem Handeln stets nur davon leiten zu lassen, was für einen selbst das Beste ist.

Diese Form des Egoismus propagierte er in seinem einzigen 1844 publizierten Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum. Das klingt moralisch gesehen erstmals nicht besonders positiv. Stirnes Form der rein ichbezogenen Selbstermächtigung richtete sich aber vor allem gegen die Institutionen Kirche, Staat und Familie. Das „Ich“ als einziger und freier „Eigner“ seiner selbst. Wenn man so will eine Vorwegnahme von Nietzsches „Übermensch“ allerdings ohne dessen idealisierendem Pathos.

Stirners essayistische Schrift liest sich schwer und ist sicher auch nicht leicht einzuordnen. Sie ist ein philosophisch begründeter Rundumschlag in Abgrenzung zu den Junghegelianern um Feuerbach, denen Stirner in der Jugend angehörte, die er aber wegen ihrer von ihm so genannten „atheistischen Frömmigkeit“ ablehnte. Alle, die Stirner später rezipierten, bis auf seinen Biografen John Henry Mackay, ein den Anarchisten nahestehender Schriftsteller, taten das in Absicht ihn zu widerlegen. Vor allem Karl Marx, der ihn in seinen kritischen Schriften Die Deutsche Ideologie erwähnte.

Stirners Einziger hat in der Vergangenheit immer mal wieder eine Renaissance erfahren. Was den Philosophen allerdings heute wieder interessant machen könnte, wäre einzig sein radikal kritischer Geist, sich gegen jegliche Einvernahme strikt abzugrenzen. Das macht aus ihm natürlich auch einen Außenseiter, wozu sich gern auch radikale Künstlernaturen zählen. Der Theaterregisseur Sebastian Hartmann, bekannt für seine radikale Bühnenkunst, hat sich im Auftrag des Deutschen Theater Berlin  mit Max Stirner beschäftigt und gemeinsam mit dem Musiker und Komponisten PC Nackt ein sogenanntes „Stück Musiktheater“ zu dessen Werk Der Einzige und sein Eigentum geschaffen.

Es wirkt schon ein wenig merkwürdig und auch vermessen, eine theoretische Schrift musikalisch auf die Bühne bringen zu wollen. Einer wie Jürgen Kuttner, der sich mit Capitalista, Baby! nach dem Roman The Fountainhead von Ayn Rand schon am Radikal-Egoismus abgearbeitet hat, würde da sicher in Brecht‘scher Manier erklärend an die Sache herangehen. Hartmann ist aber eher dafür bekannt, aus literarischen Texten die Kernaussagen zu destillieren und dermaßen fragmentiert seinen DarstellerInnen in den Mund zu legen, dass der Inhalt des Werks nur noch intuitiv erahnbar ist.

So geht dann auch Hartmann mit Stirners Text um. Er hat daraus so etwas wie kurze Songtexte, aber auch längere Monologpassagen gebastelt. Und auch für die Bühne zeichnet der Regisseur wieder verantwortlich. Eine Treppe mit geschlossenen Außenwänden dreht sich spiralförmig vor dem weißen Rundhorizont. Wenn man so will eine Art Elfenbeinturm für sechs kleine Denkerlein, die hier in schwarzen Anzügen und breitrandigen Hüten (Kostüme: Adriana Braga Peretzki) wie eine Schar Puritaner auf Wallfahrt aussehen. Elias Arens, Felix Goeser, Linda Pöppel, Anja Schneider, Cordelia Wege und Niklas Wetzel durchlaufen so fast bildlich die einzelnen Abteilungen des Textes.

Sehr existentialistisch düster wird es im ersten Teil des Abends. Der Elektro-Sound von PC Nackt an den Tasten und Earl Harvin am Schlagwerk verheißt zunächst sphärisch Bedeutung. Es wabert Nebel über die Bühne und im Chor intonieren alle die Eingangsworte des Stirner‘schen Traktats: „Was soll nicht alles meine Sache sein...“ Es geht weiter mit Kindern und Eltern aus der Ersten Abteilung „Der Mensch“, dann folgen „Menschen der alten und neuen Zeit“ in Stirners Unterteilung „Die Alten“ und „Die Neuen“. Menschheit, Wahrheit, Schöpfer, Revolution. Das wird alles stichwortartig angerissen und mal Solo mal im Duett mal im Chor dargeboten. Die Livekamera projiziert die Gesichter in Großaufnahme auf die Wand der Treppe, die immer wieder bestiegen oder hinabgegangen wird.

Bienenwaben zeigen die Video-Animationen des Leipziger Künstlers Tilo Baumgärtel. Als absolutes Gimmick gibt es eine Sequenz in der diese Bilder mit einer zuvor ausgehändigten Brille in 3D zu bewundern sind. Das staatenbildende Insekt im Kontrast zu Stirners Egoisten, die hier immer mal wieder zur Rampe schreiten und ihre Ich-Werdung besingen. Aber auch „Ich verliere mich“ oder Fragen wie „Wozu bin ich berufen?“ und „Worin besteht das wahre Leben?“ formulieren. Hoffnung, Romantik, Sehnsucht als Existentialismus-Tänzchen. Und Elias Arens kämpft mit einer Roboterfigur.

Das wirkt zunächst noch recht getragen, bis PC Nackt den Schalter umlegt und Ahrens zu einem „Vielleicht, vielleicht...“-Rap ansetzt. Der 2stündige Abend wird nun musikalisch und textlich etwas eingängiger. Der Schlüsselsatz „Ist es Mir recht, so ist es recht.“ aus Stirners Kapitel „Meine Macht“ wird im Sprechgesang mehrmals wiederholt. Felix Goeser hängt noch unmündig an Seilen, bis die Egos sich befreit haben und zum „Mir geht nichts über Mich!“ ansetzen. Man trägt jetzt glitzernde Abendgarderobe und hat sogar mit „Weil Licht aus deinen Augen fällt und fiel ins Jetzt und Hier.“ einen richtigen Hit zum Mitklatschen. Ob damit das Licht der Aufklärung gemeint ist, erschließt sich bei Hartmanns textlichem Querbeet-Verfahren nicht wirklich. Zum Liberalismus-Bashing bei Stirner singt man hier vom „Glücke, diesem faulen Fleck des Bürgertums.“ Irgendwann muss Cordelia Wege auch mal ins kalte Ego-Bad. Hartmanns Bebilderung des Textes ist wie üblich nicht immer eindeutig.

Man könnte den Zitate-Salat unendlich weiterführen. Das ist zuweilen auch recht witzig - moralisch gottseidank nie - wenn es um den „Esel in der Löwenhaut“ geht, oder „Die Neuen - beautiful. Die Alten - beautiful. Die Kinder - beautiful“ intoniert wird. Da wird der Abend dann aber auch irgendwie zur szenischen Nummernrevue. Früher sagte man auch ein Strauß bunter Melodien. Schlecht sind Sound und Bühnenshow sicher nicht, sie lenken nur etwas ab von der Beliebigkeit des Inhalts. Schade.



Der Einzige und sein Eigentum am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair

Stefan Bock - 6. September 2022
ID 13791
DER EINZIGE UND SEIN EIGENTUM (Deutsches Theater Berlin, 04.09.2022)
Ein Stück Musiktheater von Sebastian Hartmann und PC Nackt nach Max Stirner

Regie und Bühne: Sebastian Hartmann
Komposition und musikalische Leitung: PC Nackt
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Video: Tilo Baumgärtel
Live-Kamera: Dorian Sorg
Licht: Lothar Baumgarte
Choreografie: Ronni Maciel
Dramaturgie: Claus Caesar
Mit: Elias Arens, Felix Goeser, Linda Pöppel, Anja Schneider, Cordelia Wege und Niklas Wetzel sowie den Musikern PC Nack, Earl Harvin und Jörg Wähner
Premiere war am 4. September 2022.
Weitere Termine: 11., 17., 25.09.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/


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