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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Blick auf

soziale

Schieflagen



Beyond Caring an der Schaubühne Berlin | Foto (C) Gianmarco Bresadola

Bewertung:    



Der britische Regisseur Alexander Zeldin ist mit den extrem realistischen Bühnenräumen für seine Sozialdramen, die er zumeist mit Laien aufführt, bekannt geworden. Im Herbst 2021 war seine Produktion Love beim FIND an der Berliner Schaubühne zu sehen. Nun hat er hier nach gleichem Muster sein 2014 in London uraufgeführtes Stück Beyond Caring (deutsch: Jenseits der Fürsorge) als deutsche Erstaufführung mit dem Schaubühnenensemble herausgebracht.

Die Bühne stellt einen großen Raum in einer Fleischfabrik mit gefliester Rückwand dar. In der Mitte steht ein Tisch mit Stühlen. Die Auftritte der DarstellerInnen erfolgen über den Eingang zur Hinterbühne direkt von der Straße neben der Schaubühne. Helle Neonröhren an der Decke verstärken noch das hyperrealistische Setting. Hier versammeln sich zu Beginn zwei weibliche Zeitarbeitskräfte, eine vom Arbeitsamt geschickte junge Frau und ein Festangestellter um den Vorarbeiter einer Reinigungsfirma. Für zwei Wochen werden sie hier die Sozialräume der Fabrik und auch die mit blutigen Fleischresten besudelten Maschinen in Nachschichtarbeit reinigen.

Zeldin führt hier im Milieu des Billiglohnsektors Menschen verschiedensten Alters und ganz unterschiedlicher Charaktere zusammen. Die junge, leicht kränkliche Ada (Hêvîn Tekin) hat eigentlich ein freundliches Wesen, kann sich aber nicht gegen den Vorarbeiter Jan (Damir Avdic) durchsetzen. Ganz anders Becky (Julia Schubert). Die junge Mutter ist taff und nicht besonders an den anderen interessiert. Verletzlich wirkt sie nur in Bezug auf ihr Kind, um das zu sehen, sie Jan um einen freien Tag bittet, den er ihr nach ersten Zusicherungen dann doch nicht gewährt. Die etwas ältere Sonja (Jule Böwe) ist dagegen schüchtern und unsicher, wie Ava ein leichtes Opfer für Jan. Der festangestellte Mitfünfziger Micha (Kay Bartholomäus Schulze) ist ein zurückgezogener Sonderling, der in den Pausen Detektivromane liest und sehr empfindsam auf zu persönliche Fragen reagiert.

Damir Avdic gibt den Vorarbeiter als dauerlabernden Mansplainer, der sein „Wissen“ aus ominösen Männerratgebern hat, seine Macht ausspielt und in sogenannten „Teambesprechungen“ Druck auf seine Untergebenen ausübt. Nahezu willkürlich ordnet er Überstunden an, streicht Anträge auf freie Tage oder nötigt die Truppe zu Sonderschichten. Die Einzelgespräche, die er mit den Leuten führt, dienen einzig der Optimierung der Arbeitsleistung, echte persönliche Mitsprache ist nicht erwünscht und wird von ihm sofort unterbunden. Er versucht auch mit dem Versprechen einer Festanstellung alle gegeneinander auszuspielen. Der Kapitalismus im Gewand des Sozialdarwinismus.

Die gern gebrauchte Phrase, dass es jeder schaffen kann, behandelte schon die zum THEATERTREFFEN im Mai nach Berlin eingeladene Adaption des Buchs Ein Mann seiner Klasse von Christian Baron am Schauspiel Hannover. Hier geht es neben dem schweren und schlecht bezahlten Job aber auch um zwischenmenschliche Fragen, solidarisches Handeln und kleine Freundschaftsbeweise. Es gilt bei all dem so etwas wie Würde und ein Minimum an Selbstbestimmung zu bewahren.

Die aufgeschlossene Ava, die den stillen Micha zum Vorlesen bewegt, wird für den Einzelgänger so etwas wie ein Tochterersatz, wenn er mit ihr ein Geburtstagsständchen für seine Tochter, die er nie sieht, singt. Heftiger dagegen sind die Ausbrüche Beckys gegen Micha, den sie provoziert und schließlich zum schnellen Sex an der Fliesenwand nötigt. In den kurzen Pausen sprechen sie über Billigangebote, Geld, das man nicht hat und das wenige, das dann noch im kaputten Kaffeeautomat stecken bleibt. Sophia schleicht sich sogar nach der Schicht in die Fabrik zurück, um dort zu schlafen. Viel mehr erfährt das Publikum nicht von den persönlichen Problemen der Putzkolonne.

Die einzelnen, relativ unspektakulären Szenen werden durch magisches Flackern der Neonröhren und totale Blacks mit aufwallenden Soundeinlagen unterbrochen. Dieses recht undramatische Prinzip kennzeichnete bereits Zeldins Stück Love. Auch im professionellen deutschen Stadttheatersystem vermag dieses fast dokumentarische Theater noch zu packen. Etwas Unbehagen macht sich breit, wenn die Truppe am Ende fast mechanisch die mit Blut besudelten Fleischförderbänder und Behälter putzt. Einer unmenschlichen Maschinerie ausgeliefert, müssen sie selbst wie Maschinen funktionieren. Gefangen im gnadenlosen System der Selbstoptimierung von kleinen Wichtigtuern im Amt oder im täglichen Arbeitsprozess herumkommandiert. Auch wenn im Moment anderes wichtiger erscheint, sollte das Theater auch wieder den Blick für die sozialen Probleme schärfen.



Beyond Caring an der Schaubühne Berlin | Foto (C) Gianmarco Bresadola

Stefan Bock - 30. April 2022
ID 13597
BEYOND CARING (Schaubühne am Lehniner Platz, 27.04.2022)
Regie: Alexander Zeldin
Bühne und Kostüme: Natasha Jenkins
Sounddesign: Josh Grigg
Dramaturgie: Nils Haarmann
Licht: Marc Williams
Mit: Damir Avdic, Jule Böwe, Julia Schubert, Kay Bartholomäus Schulze und Hêvîn Tekin
Premiere war am 27. April 2022.
Weitere Termine: 02., 03., 04., 05., 25., 26., 27., 28., 29.05.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.schaubuehne.de


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