Über 6½
Stunden
|
Dantons Tod am Staatsschauspiel Dresden | Foto (Detail): Sebastian Hoppe
|
Bewertung:
Über den Sinn von Triggerwarnungen im Theater lässt sich sicher streiten. Auch das Staatsschauspiel Dresden gibt zu Georg Büchners Stück Dantons Tod in der Inszenierung von Frank Castorf eine solche heraus. Darin heißt es:
„Wir weisen darauf hin, dass der Stücktext körperliche und sexualisierte Gewalt auch gegen Minderjährige sowie Suizid, Rassismus und koloniale Abhängigkeitsverhältnisse thematisiert. Darüber hinaus kommt es zur Darstellung von Alkohol- und Drogenmissbrauch.“
Ohne dem ist eine Castorf-Inszenierung nicht zu haben und vermutlich auch relativ sinnlos. Da besteht der Meister auf seinem Recht zu sagen, was er will. So verlautbarte es Castorf zumindest in einem Interview mit der Berliner Zeitung vor der Premiere. Gemessen am Thema Französische Revolution mit ihren mörderischen Auswüchsen unter dem Diktat der Guillotine ist nichts anderes zu erwarten.
Erschwerend hinzu kommt der Inhalt von Heiner Müllers Stück Der Auftrag, das die Themen Rassismus und Kolonialismus beisteuert. Castorf hat das Stück seines Hausheiligen schon früher inszeniert und Passagen aus dem Auftrag als Fremdtext in viele seiner Inszenierungen integriert. Diesmal liegen die inhaltlichen Parallelen förmlich auf der Hand. In einem kleinen Kasperlspiel vom „Theater der weißen Revolution“ bezieht sich Müller im Auftrag direkt auf die Fede zwischen den revolutionären Kontrahenten Danton und Robespierre. In Dresden wird nun aber nicht mit Köpfen Fußball gespielt, sondern mit einer Weinflasche. So viel zum Thema Alkoholmissbrauch.
Der Abend beginnt auf der von Alexander Denić mit dem Pariser Künstler-Café Procope und einer angeschlossenen Waffenkammer ausgestatteten Drehbühne mit Müllers Auftrag und der Überbringung des Briefs des auf Kuba sterbenden Galloudec an seinen Auftraggeber Antoine in Paris. Wie in Frankreich nach der Machtergreifung Napoleons ist auch der geplante Aufstand der Sklaven auf Jamaika gescheitert. Die drei französischen Emissäre, tot (Sasportas), im Sterben liegend (Galloudec) oder dem Verrat verfallen (Debuisson), wollen ihren Auftrag zurückgeben, von dem Antoine schon nichts mehr wissen will. Hier spielen das Gast Franz Pätzold (bereits durch mehrere Inszenierungen am Münchner Residenztheater Castorf-gestählt) als Matrose und Marin Blülle als Antoine, der sich im Café den Rotwein schmecken lässt und den Boten die Tür weist.
Frank Castorf verschränkt Müllers Erinnerung an eine Revolution scharf mit Büchners Danton, in dem das bittere Ende schon blutig rot durchschimmert. Teilweise muss man schon textfest sein, um sich das plötzliche Auftreten von Müllers Engel der Verzweiflung (Friederike Ott) zu erklären. Philipp Grimm (Sasportas), Sven Hönig (Galloudec) und Lukas Vogelsang (Debuisson) beginnen das Maskenspiel um Tod und Revolution. Müllers pathetischer Text aus dem Jahr 1979, in dem es viel um Haut und Fleisch, Herr und Sklave geht, gilt vielen heute schon allein wegen des häufigen Gebrauchs des N-Worts nicht mehr als zeitgemäß. Dazu kommt die sexuell weiblich personifizierte Erste Liebe und der Verrat, die bei Castorf natürlich nicht fehlen dürfen. Adriana Braga Peretzki hat das Ensemble entsprechend stark zwischen Rokoko- und Western-Style eingekleidet. Gewechselt wird das Outfit oft, genau wie die Rollen, die lange nicht genau zuzuordnen sind.
Als Antipoden Danton und Robespierre schälen sich schließlich Hausjungstar Jannik Hinsch (ab der nächsten Spielzeit am Thalia Hamburg) in glitzernder Fransenjacke und Franz Pätzold im roten Anzug heraus. In einer interessanten Doppelrolle ist wieder Marin Blülle als Camille und St. Just zu sehen. Castorf zeigt die Ähnlichkeit und Ambivalenz seiner Figuren nicht nur in der Besetzung, auch in den Texten spielt er öfter mit der Zuordnung. So gibt es den Disput um Tugend und Terror zwischen Danton und Robespierre gleich zweimal. Erst als Probe zwischen Pätzolds Robespierre und Camilles kurz auftrumpfender Frau Lucile (Josephine Tancke), dann als Candlelight-Dinner bei Broiler und Rotwein zwischen Pätzold und Hinsch. Hinsch ist sichtlich der Genießer, dem Tugend und Strafe nicht einleuchten und der lange nicht daran glaubt, dass es die Clique um Robespierre wagen wird, ihn anzuklagen, der daher kaum ins Handeln kommt und nur viel zu spät rhetorisch punkten kann.
Zuvor liegt Hinschs Danton lang träge mit der Prostituierten Marion (Nadja Stübinger) im Lotterlager hinter dem Café. Vom Konvent und Jakobinerclub geht es in die Kneipe und auf die Gasse, wo der „Wille des Volks“ laut und lallend nach „Aristocratenfleisch“ verlangt. Dem Frauenteam gibt Castorf einige Male die Freiheit aus ihren Rollen auszusteigen und dagegen aufzumucken mit kleinen Seitenhieben auf den Regisseur, den Torsten Ranft parodiert, bevor er sich kurz vor der Pause als Mann im Fahrstuhl am vermeintlichen Auftraggeber vorbei zu seinem Antipoden nach Peru sächselt.
Das ist in den 3,5 Stunden vor der Pause alles sehr stark und dicht inszeniert, verliert sich aber zusehend danach. Jetzt kommt vor allem die Dresdner Hydraulikbühne zum Einsatz, die unter lauter Musik die Bühnenaufbauten runter und wieder hochfahren lässt. Der Bühnenhorizont ist ein Bild brennender Städte, der Rauch verdichtet sich zu Wolken. Auf dem Revolutionsplatz regnet es. Aus dem Bauch der Unterbühne wird via Live-Kamera auf den großen Videoscreen übertragen. Nachdem im Auftrag die Welt wieder eine „Heimat für Herren und Sklaven“ ist, geht es im „Blutkessel“ Danton weiter mit sehr viel pathetischem Büchnertext auch aus seinem Fatalismusbrief. Und „zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte“ schrieb er hellsichtig in seinen Danton: „Soll eine Idee nicht eben so gut wie ein Gesetz der Physik, vernichten dürfen, was sich wiedersetzt?“ Frank Castorf dehnt seinen Büchner-Auftrag auf über 6,5 Stunden bis zu einem ausgelassenen Tänzchen des großartigen Ensembles zu französischem Volksliedgut. Geplant waren 3 Stunden vor der Pause und knapp 2 danach. Aber auch da braucht es für Castorf-Abende wahrlich keine Triggerwarnung mehr.
|
Dantons Tod, inszeniert von Frank Castorf, am Staatsschauspiel Dresden Foto (C) Sebastian Hoppe
|
Stefan Bock – 28. April 2025 ID 15245
DANTONS TOD (Staatsschauspiel Dresden, 25.04.2025)
von Georg Büchner, unter Verwendung von Heiner Müllers Der Auftrag
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Musik: William Minke
Lichtdesign: Johannes Zink
Videodesign: Andreas Deinert
Videoschnitt: Maryvonne Riedelsheimer
Dramaturgie: Jörg Bochow
Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink
Licht: Andreas Barkleit
Live-Kamera: Andreas Deinert, Julius Günzel und Eckart Reichl
Live-Schnitt: Diana Stelzer und Theresa Tippmann
Boom-Operator: Moritz Lippisch und Christian Rabending
Mit: Marin Blülle, Philipp Grimm, Jannik Hinsch, Sven Hönig, Nihan Kirmanoğlu, Friederike Ott, Franz Pätzold, Torsten Ranft, Nadja Stübiger, Josephine Tancke und Lukas Vogelsang
Premiere war am 25. April 2025.
Weitere Termine: 03., 17.05.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsschauspiel-dresden.de/
Post an Stefan Bock
CASTORFOPERN
Freie Szene
Neue Stücke
Premieren (an Staats- und Stadttheatern)
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
THEATERTREFFEN
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|