Leben am
Kipppunkt
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Amelle Schwerk, Nina Wolf und Matthias Redlhammer in So langsam, so leise von Björn SC Deigner am Schauspiel Frankfurt | Foto © Jessica Schäfer
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Bewertung:
Der Regen bebt, zittert, bewegt sich unerbittlich auf und nieder. Nina Wolf dreht sich als Verkörperung des Regens kunstvoll um die eigene Achse. Sie lässt lange Ketten mit durchsichtigen Perlen, die an ihrem wolkenartigen Hut befestigt sind, kreisrund fliegen. Eine junge Frau, Karen (Amelle Schwerk), schaut derweil missmutig auf das einzige dunkle Fenster im Raum. Unter der halb heruntergezogenen Jalousie zeichnen sich Regentropfen ab. Der dichte Dauerregen könnte den Hang aufweichen und das Fundament des Hauses gefährden. Das Haus ihres Vaters könnte weggespült werden.
Das vom Schauspiel Frankfurt bei Björn SC Deigner in Auftrag gegebene Stück war die Eröffnungsinszenierung der Kammerspiele in der neuen Spielzeit. Regisseurin Luise Voigt arbeitete bereits jüngst erfolgreich mit Deigner zusammen. Ihre gemeinsame Theaterarbeit Die Gewehre der Frau Carrar/ Würgendes Blei am Residenztheater München wurde dieses Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Einziger Handlungsort der Frankfurter Inszenierung So langsam, so leise ist der Innenraum des Hauses am Hang. Die Zuschauer sehen hier zwei, lieblos mit Büchern und Unterlagen bedeckte Tische, einfache Stühle, eine Herdplatte und eine mit Geschirr zugestellte Spülecke. Maria Strauchs während der Vorführung oft abgedunkeltes Bühnenbild hat düstere, unheimliche und surreale Qualitäten. Am Boden und in den Ecken zeichnen sich deutliche grüne Schichten wie Spuren von Moos oder Schimmel ab. Räumliche Perspektiven und Winkel wirken schief gesetzt und scheinen nicht zu stimmen. Tapeten blättern ab. Auf der linken Seite ist oben eine Uhr befestigt, die jedoch über keine Zeiger mehr verfügt.
Hier trifft Karen ihren Vater (Matthias Redlhammer) wieder, der zusehends an Demenz erkrankt scheint. Er führt Selbstgespräche, in denen er von den Donaukulturen erzählt, über die er zeitlebens als Historiker geforscht hat. Die Figur des Vaters, Harald, scheint dem Sachbuchautor Harald Haarmann nachempfunden, der im Jahr 2011 den Begriff der Donauzivilisation prägte. Haarmann forschte zu einer frühen europäischen Hochkultur von ca. 5000 bis ca. 3500 v. Chr. Haarmanns Thesen wurden von der Forschung jedoch teilweise widerlegt und nicht anerkannt. Haralds Tochter Karen ist im Stück eine junge Physikerin. Diese hat ganz eigene Sorgen, denn ihre Forschung wird nicht mehr gefördert.
Während der Vater pausenlos im Selbstgespräch um seine Forschung kreist, fragt Karen ihn mehrfach, ob er eine Tasse Tee trinken möchte. Dabei wird ihre Stimme akustisch so sehr verzerrt, dass für den Zuschauer augenscheinlich wird, dass er sie nicht verstehen kann. Hier merkt man der Produktion an, dass der Stückautor Björn SC Deigner aus der Sparte des Hörspiels kommt. Während der Vorführung werden insbesondere im Mittelteil Erzählerstimmen von Band eingespielt. Der auf der Bühne das Geschehen personifiziert durchschreitende Regen spricht teilweise von Band. Darüber hinaus taucht ein wild tänzerisch wirbelnder Hund auf. Max Masahiro Levy vollführt als Hund mit dichtem Ganzkörperfellkostüm expressive Choreografien der Japanerin Minako Seki im Stil der avantgardistischen japanischen Tanztheaterform Butoh.
Während Karen fasziniert vom Hund ist und spontan mit ihm spricht, möchte Harald ihn mit einem Hammer erschlagen. Karen hindert ihren Vater bestürzt daran. Nach einem kurzen Abtritt haben Vater und Tochter Wunden im Gesicht. Der Hund antwortet Karen mit einer eingespielten Stimme von Melanie Straub.
Es werden berührende Annäherungen zwischen Karen und dem Hund, aber auch zwischen ihr und dem Regen angedeutet. So bewegt sich Karen in mehreren Szenen synchron mit beiden Fremdkörpern in der väterlichen Wohnung und tauscht mit beiden Gedanken aus. Dieser abstrakt anmutende Schwebezustand setzt einen Kontrast zum Vater, der über seiner Wissenschaft brütet und zunehmend Dinge um sich herum vergisst. Live auf die Bühne projizierte Super-8-Aufnahmen schaffen darüber hinaus eine abstrakte, durch Filmrisse brüchig werdende neue Erzählebene, die nostalgisch an Karens Kindheit erinnert. Gegen Ende sitzen sich Vater und Tochter harmonisch gegenüber und tauschen sich mit, vom Band eingespielten Kinderstimmen aus. Der Vater gesteht seiner Tochter mit Kinderstimme, dass er sie lieb hat.
Viele Konflikte werden tastend angedeutet, ohne wirklich ausgespielt zu werden. So gibt es am Ende ein Anzeichen dafür, dass Karen die Pflege ihres Vaters übernimmt. Die anspruchsvolle und poetische Vorführung handelt von schwindenden Erinnerungen, möglicherweise schmerzhaften Kindheitstraumata und fortbestehenden familiären Konflikten. Es geht um Vergänglichkeit und das Vergessen. Schlussendlich handelt die Endzeitvision auch davon, dass alle menschlichen und kulturellen Errungenschaften von der Natur wieder eingeholt und überwunden werden können. Denn das hier dramatisch erzählte Unwetterereignis scheint gar nicht so weit weg, denke man nur an die Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal.
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Max Levy, Amelle Schwerk und Matthias Redlhammer in So langsam, so leise von Björn SC Deigner am Schauspiel Frankfurt | Foto © Jessica Schäfer
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Ansgar Skoda - 8. Dezember 2025 ID 15598
SO LANGSAM, SO LEISE (Kammerspiele, 06.12.2025)
von Björn SC Deigner
Regie: Luise Voigt
Bühne und Kostüme: Maria Strauch
Musik und Video: Nicolas Haumann
Choreografie: Minako Seki
Dramaturgie: Lukas Schmelmer
Licht: Jan Walther
Mit: Amelle Schwerk, Matthias Redlhammer, Nina Wolf, Max Masahiro Levy und
Melanie Straub
UA am Schauspiel Frankfurt: 13. September 2025
Weitere Termine: 15.12.2025// 25.01.2026
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielfrankfurt.de
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