Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 6

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Freie Szene

Spannendes

Gerichtsdrama

über Krieg oder

Menschlichkeit



MACHT. KRIEG. FRIEDEN (?) im Globe Berlin | Foto (C) Thorsten Wulff

Bewertung:    



Aktueller kann Theater nicht sein. Während Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine seit 3 Jahren tobt und die israelische Armee Gaza und den Iran bombardiert, spielt das Globe Berlin gemeinsam mit dem russisch-ukrainischen Flüchtlingsensemble vom Urban Theater das Stück MACHT. KRIEG. FRIEDEN (?) nach William Shakespeares Heinrich V. Der Titel kann durchaus als Wortspiel verstanden werden. Einen Tag nach der Premiere sind die USA in den Krieg mit dem Iran eingetreten und die Staatsrechtler diskutieren wieder die Frage nach dem gerechten Krieg oder dem Recht auf präventive Selbstverteidigung. Auch wenn das zum Beginn der Proben sicher noch nicht absehbar war, so ist auch das bereits in der Textfassung der Dramaturgin Natalia Skorokhod berücksichtigt worden.

Shakespeares Königsdrama Heinrich V. spielt während des Hundertjährigen Kriegs zwischen England und Frankreich um die französiche Thronfolge. Heinrichs Anspruch auf die französische Krone wird vom Erzbischof von Canterbury und dem Bischof von Ely genutzt, um von einem Gesetz zur Beschlagnahme von Kirchenbesitz abzulenken. Der französische Thronfolger lehnt Heinrichs Anspruch ab und düpiert den jungen König mit einem Geschenk, einer Kiste mit Tennisbällen. Daraufhin will Heinrich Frankreich erobern und zieht mit einem kleinen Heer aus Engländern, Iren, Walisern und Schotten nach Frankreich. In der berühmten Schlacht von Azincourt motiviert er sein gegen die Franzosen zahlenmäßig unterlegenes Heer mit einer patriotischen Rede. Nach dem Sieg heiratet er die französische Prinzessin Katharina von Valois. Shakespeare stellt seinen Helden als den idealen Herrscher dar, was man aus heutiger Sicht moralisch durchaus in Zweifel ziehen kann.

Das ist nicht unbedingt ein Thema für ein laues Sommertheater unter freiem Himmel. Die Idee, das hurra-patriotische Stück mit einer Gerichtsverhandlung zur Beurteilung der Taten Heinrichs V. zu flankieren, ist aber bestechend. Das Stück in der Regie von Natalia Lapina vom Urban Theater nimmt den Prolog Shakespeares auf. Dazu steht das Ensemble links und rechts der Bühne auf Podesten und trommelt im Rhythmus zum chorischen Text auf Metallfässern. Als Ankläger und Verteidiger Heinrichs (gespielt von Michael Schröder) treten die jüdisch-deutsch-US-amerikanische Philosophin und politischen Theoretikerin Hannah Arendt (Saskia von Winterfeld) sowie der italienische Staatsphilosoph und Schriftsteller Niccolò Machiavelli (Anselm Lipgens) auf. In ausgewählten Schlüsselszenen wird Shakespeares Schauspiel durchgespielt und sofort von den beiden analysiert.

Das daraus kein trockenes Theorietheater wird, ist dem grandios aufspielenden 10-köpfigen Ensemble zu verdanken, das beständig die Kostüme (Ausstattung: Arina Slobodianik) wechselnd in die verschiedenen Rollen des Stücks schlüpft und auch Shakespeares Witz hier nicht zu kurz kommt. Schon das Treffen Heinrichs mit dem französischen Dauphin (Tim Otto Göbel) wird zum Ereignis, wenn Heinrich in Rage die Tonne mit den Tennisbällen von der Bühnenbrücke auf den Steg davor ins Publikum kippt. Die Tennisbälle spielen noch in der Schlacht von Azincourt eine akustische Rolle. Zusätzlich eingeführt wird die Rolle eines KI-gesteuerten Übersetzers und wandelnden Lexikons namens Alienor, den Ilya Khodyrev mit Kopfhören mimt. Mit ihm absolviert Prinzessin Catherine (Olha Kryvosheieva) in Erwartung Heinrichs auch ihre recht körperlichen English-Lessons.

Den Angriff Heinrichs auf Frankreich bewerten Anklägerin Arendt und Verteidiger Machiavelli erwartungsgemäß ganz unterschiedlich. Die Texte dürften aus Zitaten ihrer Werke stammen. Für Machiavelli ist der Krieg gerecht, wenn der Fürst einen guten Grund dafür hat. Für Arendt steht hinter Gewalt und Krieg nie das Leben, sondern der Wille zur Macht. Beides dürfte damals wie heute gelten. Die Form von Diplomatie als Drohung, die Heinrich verfolgt, erzwingt geradezu den Krieg, der für Arendt Politik unmöglich macht. Für Machiavelli ist die Verachtung des Krieges Ursache für den Verlust der Herrschaft. Auch wenn sich die beiden hier so eloquent die Bälle zuspielen, ist natürlich klar, wo die Sympathien im Publikum liegen werden. Das schwächt die Position des Heinrich-Verstehers Machiavelli keineswegs. Die Ansichten vieler heutiger Politiker sind machiavellistisch.

Derweil geht das Stück weiter über die Belagerung von Harfleur, wo Heinrich seinen ersten großen Monolog (noch einmal in die Bresche, Freunde) hat, bis zur Nacht vor der Schlacht von Azincourt, in der sich Heinrich unerkannt unter seine Leute mischt und sich mit den Soldaten Bates (Illia Rudakov) und Pistel (Oleksandr Kryvosheiev) über den Gehorsam zum Herrscher und mögliche befohlene Verbrechen diskutiert. Eine auch heute immer noch oft rezipierte Rede Heinrichs ist die sogenannte St.-Crispins-Tag-Rede vor der Schlacht, die die Reihen schließen soll und den Sieg als gottgewollt vorwegnimmt. Ein Disput über Gehorsam und freie Zustimmung zur Macht folgt.

Nach der Pause tritt das Ensemble kurz aus seinen Rollen. Die aus Russland und der Ukraine stammenden SchauspielerInnen sprechen über ihre Erfahrungen mit Krieg, Flucht und Verlust der Heimat, währen die deutschen SchauspielerInnen von der Verstrickung und Schuld ihrer Großväter im Zweiten Weltkrieg berichten. Die Schlacht von Azincourt bricht dann mit düsteren E-Gitarren-Sound herein. Pistel und ein französischer Offizier (Illia Rudakov) treffen sich hier Lost in Translationen. Der Befehl Heinrichs, alle französischen Gefangenen zu töten, ist auch wieder Auslöser einer Diskussion zwischen Anklage und Verteidigung. Am Ende schreibt der Sieger die Geschichte und die Todeszahlen. Von den Seiten verliest das Ensemble dazu Namen von Toten aller Kriege. Und auch die Heirat von Heinrich und Catherine markiert hier nicht das gewünschte Happy End. Ob moralischer Ruin oder naiver Humanismus, der Wunsch, dass alle Kriege enden mögen, bleibt noch unerfüllt.



MACHT. KRIEG. FRIEDEN (?) im Globe Berlin | Foto (C) Thorsten Wulff

Stefan Bock - 23. Juni 2025
ID 15322
MACHT. KRIEG. FRIEDEN (?) | 21.06.2025, Globe Berlin
nach William Shakespeares Heinrich V.

Künstlerische Leitung: Christian Leonard
Regie: Natalia Lapina
Ausstattung: Arina Slobodianik
Musik: Roman Stolyar
Lichtdesign: Tina Kovalski
Lichttechnik: Bernd Höhne
Dramaturgie und Textfassung: Natalia Skorokhod
Produktionsleitung: Witalij Schmidt
Mit: Michael Schröder, Saskia von Winterfeld, Anselm Lipgens, Ilya Khodyrev, Henning Bormann, Olha Kryvosheieva, Tim Otto Göbel, Seva Kovalenko, Oleksandr Kryvosheiev und Illia Rudakov
Premiere war am 20. Juni 2025.
Weitere Termine: 17., 18., 19.07./ 29., 30.08.2025
Eine Koproduktion mit dem Urban Theater


Weitere Infos siehe auch: https://globe.berlin/


Post an Stefan Bock

Freie Szene

Neue Stücke

Premieren (an Staats- und Stadttheatern)



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!    



Vielen Dank.



  Anzeigen:





THEATER Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

AUTOR:INNEN-
THEATERTAGE

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

DEBATTEN
& PERSONEN

FREIE SZENE

INTERVIEWS

PREMIEREN-
KRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski

THEATERTREFFEN

URAUFFÜHRUNGEN


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2025 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)