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Porträt

SIEGFRIED MATTHUS

zum 80. Geburtstag


Foto (C) Kammerkommer/Carla Arnold


Die Sehnsucht nach der

verlorenen Melodie

Siegfried Matthus, bedeutender Opernmeister unserer Tage, feiert am 13. April seinen 80. Geburtstag: Drei von drei Berliner Opernhäusern ignorieren im Jahr 2014 das Jubiläum des auf ihren Bühnen bewährten Komponisten, der nicht nur in der DDR einer der am häufigsten gespielten Gegenwartsmusiker war, sondern auch im Westen – und das mit anhaltendem Erfolg sowohl in Fachkreisen wie bei einem breiteren Publikum und bis heute. Zweifellos ist es kein Zeichen etwa mangelnder Wertschätzung gegenüber dem quicklebendigen Meister, der in Rheinsberg in den letzten beiden Jahrzehnten auch noch einen internationalen Opernwettbewerb für Gesangsstudenten aus aller Welt initiierte, die Kammeroper im dortigen Schlosstheater reanimierte und beides mit einem alljährlichen Sommerfestival vereint. Nein, jene Ignoranz ist banal ein Zeichen von Inkompetenz, schlechter Ausbildung und folglich Desinteresse. Man kennt seine Werke nicht, man denkt nicht daran, man ist nicht auf die Idee gekommen. Weder bringt das Fernsehen auch nur eine der exquisiten TV-Aufzeichnungen, etwa die des international erfolgreichen Opern-Geniestreiches Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, die Matthus als Librettist und Komponist für die Eröffnung der wiederaufgebauten Dresdner Semperoper 1986 in einem Zuge geschrieben hatte – und deren geniale Inszenierung immerhin von Ruth Berghaus durch ihren Meisterschüler Frank Schleinstein für das Fernsehen der DDR festgehalten wurde; nein, auch keins der bedeutenden Konzertwerke, die in New York oder Paris oder Leipzig uraufgeführt wurden – nicht zuletzt 2009 z.B. das Konzert für fünf von den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle.

Dabei sollte gerade Deutschland, seine geliebte „Kulturnation“, einen solchen Mann feiern, der sich doch sein Leben lang für die musikalische Verständigung zwischen Ost und West einsetzte – und sie verkörperte – und der 1989 in einem Leipziger Fernsehinterview mit dem damaligen Gewandhausmusikdirektor Kurt Masur zukunftsfroh hoffte, dass die DDR ja nicht nur ökonomische Fragen und Probleme in ein zu vereinendes Deutschland einzubringen hätte, sondern doch einen höchst lebendigen und massiven kulturell-geistigen Reichtum. Dieser hohe erreichte Standard in Gestalt vieler Orchester, Bibliotheken, Theater usw. sei zu bewahren: zumal ja nun die Gelder, die zur Sicherung der Staatsgrenze oder für den Unterhalt der Staatssicherheit „nicht mehr nötig“, dafür nun für den Erhalt von Bildung, Kunst und Kulturleben „frei“ seien... Doch spätestens zwanzig Jahre danach musste Matthus bitter beklagen, dass Kultur nicht mehr zählte und keinen Wert mehr in der Gesellschaft bedeute.

Das Werk von Siegfried Matthus hingegen hat einen Platz in der Kulturgeschichte, der nach wie vor zu Auseinandersetzung anregt und inspiriert. Nachdem der mit seiner Familie aus Ostpreußen (heute Russland) geflohene Bauernsohn als Musikstudent bei Wagner-Régeny Dirigieren und Komponieren (auch das mit zwölf Tönen, damals in der DDR noch als elitär und bürgerlich-formalistisch verpönt) erlernt hatte, war er Meisterschüler von Hanns Eisler an der Akademie der Künste. Walter Felsenstein holte den jungen Mann als Dramaturg und Komponist an die Komische Oper, die für 39 Jahre zu seiner künstlerischen Heimat wurde. Hier entstand nach seiner Bearbeitung von Monteverdis Rückkehr des Odysseus die gerade heute noch erstaunliche Revolutionsoper Der Letzte Schuss (nach der auch verfilmten Novelle des sowjetischen Autors Boris A. Lavrenjov von 1928). Matthus gestaltet den Bürgerkriegs-Konflikt zwischen der Rotarmistin Marjutka und ihrem Gefangenen, einem weißgardistischen Offizier, aufwändig: ihre keimende Liebe scheitert an den unterschiedlichen politischen Zielen der Beiden – am Ende erschießt die Frau den Mann. Für die komplexen Widersprüche und vielschichtig-synchronen Vorgänge nutzt Matthus aufwändig die surreal-poetischen Mittel der Musikbühne: er erfindet für die Protagonisten jeweils „Gedankenstimmen“ – für Marjutka (Sopran) eine weitere Sopranistin, für den Tenor (Gardeleutnant Goworucha-Otrok) einen Bariton (diese Technik wird er in seiner Rilke-Oper für Dresden 1986 wieder aufgreifen und weiter führen). Der Musikwissenschaftler Fritz Henneberg hebt in seinem Essay für das Jahrbuch (sic!) der Komischen Oper 1968 hervor, dass Matthus mit dem Werk, das neben dem Solisten-Ensemble immerhin drei räumlich getrennte Orchester und zwei Chöre erfordert, zum ersten Mal bewusst die materialistische Dialektik in der Opernmusik angewandt habe. Eine Schallplattenaufnahme der Uraufführungsproduktion dokumentiert den hohen künstlerischen Wert der Komposition und ihre dramatische Wirkung.

Die Problematik von Flucht, Kriegsende und ostpreußischen Umsiedlern in Brandenburg thematisierte 1968 im Auftrag des Fernsehens der DDR der (mit Ursula Karusseit, Wolf Kaiser, Angelica Domroese, Armin Müller-Stahl usw.) so hochkarätig besetzte, wie bis heute populäre 6-Teiler (von je über einer Stunde Dauer) Wege übers Land. Und Matthus, der gebürtige Ostpreuße, war es, der dafür eine Filmmusik schrieb. „Tabu“ war dieses Thema offenbar in der DDR doch nicht so ganz…

Die nächste Theaterarbeit führte Matthus mit dem Dichter und Dramatiker Peter Hacks zusammen: die Uraufführung ihrer höchst witzigen Kriminaloper Noch einen Löffel Gift, Liebling? erntete überall im Land auf den Bühnen Erfolge – nur bei der Uraufführung an der Komischen Oper in Berlin nicht – und die Querelen mit dem Regisseur Götz Friedrich inspirierte Hacks zu seiner hinreißenden Satire Geschichte meiner Oper. Dieser folgte Hacks'/Matthus' Omphale – in der die sozialistische Zukunftsfrage nach den Geschlechterrollen mythisch-antik Brisanz gewinnt: Supermann Herakles scheitert an der Aufgabe, sich zu vermenschlichen, in dem er versucht, wie eine Frau zu leben – doch für dieses Ideal ist er zu schwach. Allerdings scheiterte auch das nächste Opernprojekt des Künstlerpaars: Die Vögel nach Aristophanes blieb unvollendet. Umso erfolgreicher wurden seine nächsten Opern auf eigene Libretti, ob nun 1986 die hochdramatische Judith (deren Uraufführungs-Inszenierung von Harry Kupfer ebenfalls in einer exzellenten Fernsehaufzeichnung dokumentiert vorliegt) oder Graf Mirabeau – zum Jubiläum der Französischen Revolution 1989.

Seine glückliche Position in der Hauptstadt der DDR nutzte Matthus, um in der Komischen Oper die schon legendäre Veranstaltungsreihe „Kammermusik im Gespräch“ zu etablieren, in der er, stets eloquent und hellwach, den Berlinern bedeutende Vertreter Neuer Musik nahe brachte: seine Gäste waren u.a. Krzysztof Penderecki, Luigi Nono, Hans Werner Henze, Benjamin Britten, Witold Lutosławski, Friedrich Goldmann und nicht zuletzt Mikis Theodorakis, der seinen Canto General in der Komischen Oper uraufführte, so wie viele andere mehr. Mit dieser Reihe, in der er nie eigne Musik auf das Programm setzte, leistete Matthus in der DDR einen großen Beitrag für Kenntnis und Akzeptanz neuer musikalischer Kunst – obwohl die Presse über diese (nach den Abendvorstellungen stattfindenden) „Mitternachtsmessen“ zu schweigen hatte… Oft wird bei bekannten Komponisten übersehen, wenn sie sich als eminente Dirigenten eigner Werke bewährten: Matthus war ein glänzender Orchesterleiter und es bleibt schade, dass es so wenige Aufnahmen von ihm gibt.

Lichte Heiterkeit und oft schalkhafter Humor sind zentrale Elemente der Kunst von Siegfried Matthus, der sich via Musik mit seinem Publikum zu verständigen sucht. Der Witz seiner Hacks-Opernmusik bleibt jedem im Ohr, der in ihr den Satz Noch einen Löffel Gift, Liebling? je das Glück zu hören hatte. Die ästhetischen Positionen dieses Künstlerpaares waren so unterschiedlich nicht. So, wie Hacks für die Idee der „sozialistischen Klassik“ bei den Dramen der Antike, bei Shakespeare, Racine und Goethe anknüpfte, so brach Matthus irgendwann mit Zwölftontechnik und formalen Experimenten zugunsten einer Sehnsucht nach der verlorenen Melodie (wie er auch sein zweites Klavierkonzert nannte): doch geriet Matthus dieses eben nicht zu kompromißlerischer Gefälligkeit, seine Kompositionsweise bleibt eine, die Musik der Gegenwart schafft und eben auch mit dieser zu dialogisieren trachtet. Was gelingt. – Noch vor wenigen Jahren leistete er sich den Ulk eines ganzen Opergaudis mit seiner Cosima, die angeblich zufällig aufgefundene Fragmente einer Nietzsche-Oper vervollständigt habe – und dann natürlich nach Wagner oder Carmen klingt. Die Journaille entging nicht ihrer eignen Idiotie, dem Meister allen Ernstes Fälschungs-, Betrugs- und Plagiats-Vorwürfe zu machen, ganz den Niederungen des mittlerweile erreichten Kulturniveaus entsprechend.

Auch Matthus' Kammermusik, seine Chöre, Lieder und Orchesterwerke leben von dramatischen und humoresken Momenten: nicht nur das Triangel-Konzert, dessen letzter Ton vom Dirigenten „auswendig“ zu spielen ist, das Paukenkonzert Der Wald, inzwischen ein internationales Repertoirestück, das Manhattan Concerto für Orchester oder das hinreißend virtuose Concerto for two (Trompete und Posaune) – bishin zu seiner jüngsten Programmmusik Vier Wildschweine verwüsten das Paradies (4 Posaunen)...

Dabei gibt es auch Schöpfungen großer lyrischer Schönheit, die er dem Klang neuer Musiksprache zu entlocken vermag: etwa Der See für Flöte und Orchester und das Doppelkonzert für Flöte, Harfe und Orchester. Seinen Erfolg im Westen erkaufte er sich nicht durch Konzessionen an die herrschenden Moden. Die Prinzipien der Konzentration auf Sinn (des Wortes, wie bei Eisler gelernt) und der humanistischen Orientierung blieb er treu.

Das Zentrum seines Schaffens bilden nach wie vor des leidenschaftlichen Theatermanns ca. zehn Opern. Zum Jahrtausendwechsel schuf er eine Kammeroper für Rheinsberg: Kronprinz Friedrich, die dessen Jugend unter der Tyrannei des Soldatenkönigs schildert. Wie Heiner Müller sieht Matthus in der Tragödie der Liebe zwischen Katte und Friedrich, der die Enthauptung seines Geliebten mit ansehen musste, einen Impuls für die spätere Kriegsmanie des Schöngeistes. Und auch diese Oper ist Antikriegsmusik: die filigrane Partitur von hoher theatralischer Schärfe endet in einer visionären Steigerung, um die Schatten heraufziehender Katastrophen, die dem preußischen Schoß entkriechen werden, fanalartig zu beschwören. Wenn das keine aktuelle Brisanz hat…

Siegfried Matthus hat sich trotz anhaltender Erfolge und Aufträge nicht etwa zur Ruhe gesetzt, nein, im Gegenteil: mit beispiellosem Elan setzt sich der Komponist für ein ganz neues Zentrum der Kultur ein. Im Schloss Rheinsberg gibt es nun ein Sommerfestival. Während überall Theater und Orchester abgebaut und gestrichen werden, hat Matthus Neues gesetzt, abgetrotzt den Widrigkeiten der Zeit mit der Kraft seines Namens - wie seiner Unermüdlichkeit. Sein Vermächtnis sind nicht "nur" Werke, in deren Musik die Gegenwart klingt, sondern ein lebendiges Unternehmen. Dieses ist nicht dem Profit gewidmet, sondern dem ideellen Gewinn von Kunst und Humanität des Kommenden, dem Leben begabter Menschen. Wo andere Meister sich nur um sich selbst, ihre Kunst und das Verständnis ihres Schaffens drehen, dreht sich bei Matthus alles um die Jugend, um den sängerischen Nachwuchs, um die Organisation der nächsten Wettbewerbe und Opernfestspiele für Gesangsstudenten aus aller Welt. Bis heute agiert Matthus dafür Tag um Tag, auch wenn er vor Kurzem die Leitung an seinen Sohn weiter gegeben hat. Das reizvolle Schloss in Berlins Nähe ist also nicht bloß musealen Events gewidmet: sondern den jungen Menschen, dem Gesang, sie machen die wahre Schönheit der klassischen Orte aus und gibt ihnen Sinn: Kunst ist ein Lebensmittel und Oper eine Kunstform der Hoffnung

Wünschen wir dem Meister, dass sein Werk gehört wird! Weiterhin Gesundheit und Schöpferkraft! Gratulieren wir ihm zu so fruchtbaren 80 Jahren! Danke, Maestro Matthus!



Foto (C) rbb 2014
Olaf Brühl - 8. April 2014
ID 7739
Der Film Vom Gesang der Dinge – Der Komponist Siegfried Matthus von Olaf Brühl wurde am 10. April 2014, 22:45 Uhr im rbb-Fernsehen erstgesendet.

http://www.olafbruehl.de/matthus.htm


Eine Filmvorführung/Diskussion mit dem Team findet am 15. April 2014, 20:00 Uhr, im HABBEMA – Bühne der Peter-Hacks-Gesellschaft e.V. statt.

http://peter-hacks-gesellschaft.de/veranstaltungen.html


Weitere Infos siehe auch: http://www.siegfried-matthus.de


Post an Olaf Brühl

http://www.olafbruehl.de



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