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nachDRUCK # 5

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Neue Stücke

Welcome to the
office for
postidentical
living



(C) Neuköllner Oper

Bewertung:    



"Shape – edit – customize": Der Erfolgreiche muss sich optimieren, sich abgrenzen, besser sein, fit sein, digital sein, angepasst-unangepasst sein, seine personelle Identität pflegen und diese ausbauen, um vielleicht in einer kollektiven Identität heimlich Unterschlupf zu finden. Unsere Identität unterscheidet uns von den anderen, macht uns einmalig. Aber wozu brauchen wir das? Was brauchen wir überhaupt? Wissen wir, was wir wollen? Stylen, shapen, bloggen, sich selfen, bewundert werden. Wie anstrengend, diese permanente Überforderung dem uns gebotenen "information overflow" gerecht zu werden: Nur wer das alles nicht (mit)machen muss, kann frei sein.

Das Büro für postidentisches Leben hat die Antworten und Lösungen.

Im "think tank" dieses Gemeinschaftsbüros mit billigen Tischlampen, Plastikpflanzen und Sofas (für die spanische Siesta), das keine Öffnungszeiten kennt, werden Probleme analysiert und Lösungen gefunden. Alle Mitarbeiter haben graue, fast identische Haare, und die Frauen tauschen ab und zu ihre Kleider aus. Warum aber die Anrufer selbst bei Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten immer beim Cyber-Anrufbeantworter landen, liegt daran, dass die Mitarbeiter eben gerade etwas Anderes (nicht etwas Besseres) zu tun haben, wie z.B. die Notensprache Solresol zu erfinden oder zu philosophieren – und das können sie am allerbesten. „Ihr Anruf ist wichtig für uns, doch sind alle Linien weiterhin busy, bleiben Sie bitte in der Leitung. Drücken Sie die Taste 1 wenn Sie mit Jemanden sprechen möchten, wenn nicht, drücken Sie ebenfalls die Taste 1, Sie können aber auch die Taste 3 oder 4 drücken, 5 geht auch, aber auf keinen Fall die 8, denn dort hebt nie jemand ab und wenn Sie Fragen haben sagen sie einfach 'help'. 'Sie könnten aber auch auflegen'. 'Greek is no longer available! Wählen Sie eine andere Sprache aus'."

Brillant die Solresol-Schimpf-Arie und hinreißend der deutsch-spanische Ping-Pong-Dialog, bei dem eine aufmüpfige Mitarbeiterin, die nicht mehr "post" sondern "avant la lettre" sein will, in ihre Schranken gebracht werden soll, die beiden aber nur aneinander vorbeireden. Und nur im Fotoautomaten-Beichtstuhl darf man sich outen und mitteilen, dass man sich ganz nah am "Burn-out" bewegt.

Geistreich der philosophische Monolog eines Mitarbeiters (außer Petra hat niemand einen Namen, denn Namen sind in den post-identischen Zeiten nicht mehr wichtig) über seine Person. „Ich bin nicht jemand, der gleich verurteilt“ und „ich suche nicht immer nach einer Ausreise“, „Ich weiß also wer ich nicht bin, d.h. ich bin all das, was übrigbleibt“.

Aber vor allem geht es um die Freiheit. Dafür würde die aufmüpfige Mitarbeiterin, die nebenbei auch die Regierungen abschaffen will und sehr gut Gitarre spielen kann, einfach alles geben, ja sie würde sich dafür sogar in ein kleines (allerdings nicht sehr kleines) Zimmer einsperren lassen.

Freiheit ist also das ersehnte Ziel, und hier kommt die völkerverbindend-europäische Musik von Beethoven ins Spiel. Kompositionen der Spanierin Raquel Garcia Tomás werden immer wieder von Beethovens Neunter sowie seiner letzten Klaviersonate op 111 unterbrochen, und als wunderbare Chor-Einlage der ausgezeichneten Darsteller gibt es noch das Fidelio-Freiheitslied schlechthin: „O welche Lust, in freier Luft“.

Spielerisch-philosophisch-politisch und soviel intelligenter Klamauk aufs Perfekteste dargeboten. Dazu Slapstick auf hohem Niveau. „Gibt es es spanisches Wort für Perfektion?“ „Oder ein deutsches für Flexibilität?“ „Ob dieser Marienkäfer ein Asiate ist?“ Während das Sofa von einer Seite auf die andere kippt und der Büroleiter versucht, das Gleichgewicht herzustellen.

Im Aufwasch der Abschaffung wird dann auch gleich noch die Post (Post)-Welt abgeschafft. Wussten Sie, wie viele Post-irgendwas–Begriffe es gibt?

Aber wie vorherzusehen: Das Projekt inklusive das Hoch auf die Toleranz scheint zu scheitern, als Petra beschließt, sich nun wieder zu siezen. Ein Selfie-Gruppenfoto wird gemacht. Man ist wieder identisch, wenn man mit den anderen nicht mehr identisch ist! Widersprüche und Gemeinplätze geben sich die Hand, vermischen sich hemmungslos, und es passt alles perfekt! Die Dadaisten (oder heißt es Data-isten?) wären seinerzeit sehr erfreut über diese sich über jede Logik hinwegsetzende und erfrischend-komische Aufführung gewesen.

Wie identisch oder post-un-identisch macht zum Schluss keinen Unterschied. Es ist einfach eine unglaublich gute und makellose Aufführung, die u.a. auch für identische Lachgymnastik sorgt.

*

Dieses deutsch-spanisch-englisch gesprochene Bühnenwerk sollte eigentlich Pflicht werden für Alle, die dem Wahn der Selbstfindung, Selbstoptimierung, Selbstdarstellung unterworfen sind und nicht mehr unterscheiden können zwischen dem reellen und virtuellen Leben und heimlich Angst haben, dem von ihnen erstellten eigenen FB-Niveau nicht gerecht werden zu können.

Matthias Rebstock hat das Stück konzipiert und inszeniert; der Text stammt von Tilman Rammstedt und Marc Rosisch. Schauspielerisch, musikalisch und choreografisch-sportlich ausgezeichnet das nicht-identifizierte Ensemble [Namen s.u.].

Bis Mitte Oktober ist es noch zu sehen und nicht zu verpassen!



Schlussapplaus für das Büro für postidentisches Leben an der Neuköllner Oper | Foto (C) Christa Blenk

Christa Blenk - 24. September 2016
ID 9573
BÜRO FÜR POSTIDENTISCHES LEBEN (Neuköllner Oper, 23.09.2016)
Inszenierung und Konzept: Matthias Rebstock
Text: Tilman Rammstedt und Marc Rosich
Musik und Video: Raquel García-Tomás
Ausstattung: Sabine Hilscher
Dramaturgie: Bernhard Glocksin
Mit: Florian Bergmann, Panagiotis Iliopoulos, David Luque, Lucia Martínez, Bärbel Schwarz, Mariel Supka und Marta Valero
Uraufführung beim Festival GREC in Barcelona: 5. Juli 2016
Berliner Premiere: 15. 9. 2016
Weitere Termine: 24., 25., 29., 30. 9. / 1., 2., 6. - 9., 13. - 16. 10. 2016


Weitere Infos siehe auch: http://neukoellneroper.de


Post an Christa Blenk

eborja.unblog.fr

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