Der Roman
als Oper
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Im vergangenen Jahr hat der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski bei den Salzburger Festspielen die Oper Der Idiot von Mieczysław Weinberg (1919-1996) nach dem Roman von Fjodor Dostojewski inszeniert. Jetzt liegt sie als DVD vor, zum Trost derer, die sie live versäumt haben und immerhin mit dem Vorteil, dass Großaufnahmen enthüllen, was von den von der Breitwandbühne weiter entfernten Plätzen aus ein Geheimnis bleibt.
Der Idiot wurde in Moskau fünf Jahre nach seiner Entstehung in einer Kurzfassung und erst 2013 in der Regie der damaligen Mannheimer Generalintendantin Regula Gerber und unter dem Dirigat von Thomas Sanderling vollständig uraufgeführt. Seither hat sich in Deutschland unerklärlicherweise kein Opernhaus für dieses in vieler Hinsicht bemerkenswerte Stück interessiert.
Warlikowski gelingt es, die dialoglastige Handlung in ständiger Bewegung zu halten. Dostojewskis verschlungener Struktur, in der die sehr unterschiedlichen Figuren in diversen Konstellationen auf einander treffen, wird die Oper durch simultane Episoden und Szenen gerecht. Projektionen ergänzen die Aktionen der Sängerinnen und Sänger, allerdings nicht so willkürlich und assoziativ wie in vielen Inszenierungen der vergangenen Jahre, sondern intelligent und wohldurchdacht.
Weinbergs Librettist Alexander Medwedew hält sich sehr eng an die – freilich stark gekürzte – Romanvorlage, und die ist zwar antikapitalistisch, kritisch gegenüber einer habgierigen Welt, aber sie ist es nicht, wie man bei einer in der Sowjetunion entstandenen Oper vermuten könnte, von einem sozialistischen, sondern von einem urchristlichen Standpunkt aus. Ihre Utopie ist nicht die Revolution, sondern das Mitleid, die Warmherzigkeit des „Narren in Christo“.
Ganz nach den Konventionen der Operntradition ist Fürst Myschkin mit einem Tenor, der maßlose Rogoschin, ein Vorläufer von Lopachin aus Tschechows Kirschgarten, mit einem Bariton oder Bass, Nastassja Filippowna mit einem Sopran und die brave, hinterhältige Aglaja mit einem Mezzosopran besetzt. Die Personen der Handlung werden nicht nur durch die Stimmlage, sondern mehr noch durch die musikalische Semantik charakterisiert. Weinbergs streckenweise tonmalerische, klug instrumentierte Musik nützt rhythmische und harmonische Elemente des Jazz und der Folklore, die vorrangig der zugleich komischen wie bedrohlichen, typisch dostojewskischen Figur des Lebedjew attribuiert werden. In einer Chorszene scheint Strawinski anzuklingen. Im Walzertakt verneigt sich der Komponist auch in dieser Oper vor seinem Freund und Förderer Schostakowitsch.
Auf der Rückwand steht neben mathematischen Formeln und einzelnen Stichworten – „das Böse“, „das Gold“ – in russischer Sprache und in der verwendeten deutschen Übertitelung der Satz aus Dostojewskis Roman „Ich lasse mich auf keinen Handel ein". Darunter liegt vorübergehend Fürst Myschkin als Doppelgänger des toten Christus, wie er von Hans Holbein dem Jüngeren gemalt wurde.
In der ersten Hälfte der Oper steht Fürst Myschkin fast ununterbrochen im Zentrum. Nastassja Filippowna ist eher in Absenz, als Idee präsent. Dostojewskis Idiot läuft auf ein Tutti zu, den Eklat, in dem Nastassja Filippowna das Geld ins Feuer wirft, mit dem Rogoschin sie kaufen will. Die Szene vereinigt alle Figuren in Nastassjas Salon auf der breiten Bühne der Felsenreitschule. Hier werden die Fäden der komplexen Handlung verknüpft. Und hier zeigt sich Warlikowskis Talent für überwältigende Bilder in seiner ganzen Schönheit. Fast könnte man zu der Ansicht gelangen, dass das große, das sinnliche Theater heute in der Oper stattfindet.
Rogoschin, in dieser Inszenierung eher ein sympathischer Anarchist und Abenteurer als ein wilder Rowdy mit schlechten Manieren, platzt bei Warlikowski auch musikalisch in den Namenstag. Gegen Ende verfällt er in eine Volksmelodie. Der russische Nationalist, wie ihn sich Putin wünscht? Der Triumph der Hingabe und der Verzweiflung?
Der ukrainische Tenor Bogdan Volkov als Myschkin und der belorussische Bariton Vladislav Sulimsky, der in Warlikowskis Salzburger Macbeth die Titelrolle singt, als dessen Gegenspieler und „Bruder“ Rogoschin geben stimmlich ein harmonisches Duo ab. Auch Aušrinė Stundytė als Nastassja Filippowna und die australische Mezzosopranistin Xenia Puskarz Thomas als deren Rivalin Aglaja glänzen auf Augenhöhe. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert pointiert und sängerfreundlich. Ein großer Opernabend. Für Weinberg, für Warlikowski und für das Ensemble. Das ist selbst in Salzburg keine Selbstverständlichkeit mehr.
Thomas Rothschild – 19. August 2025 ID 15420
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