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nachDRUCK # 5

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CD-Kritik

Gratia plena





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Sprechen wir es aus: Das Ave Maria, in der Vertonung sowohl von Schubert wie von Bach/Gounod, ist, so faszinierend es einmal geklungen haben mag, durch übermäßigen Gebrauch zur Salonmusik und zum Kitsch abgesunken, den man mit etwas Redlichkeit nur noch ironisch zitieren kann wie Brecht/Weill das Gebet einer Jungfrau in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny („Das ist die ewige Kunst!“). Das Ave Maria gehört wohl zu den am meisten verbreiteten Kundgebungen der christlichen Öffentlichkeit. Die Anrufung der Mutter Gottes hat denn auch über Schubert und Gounod hinaus unzählige Komponisten zur Vertonung provoziert. 68 dieser Musikstücke hat die Sopranistin Andrea Chudak nun in der Friedenskirche Potsdam aufgenommen und auf 5 CDs [68 Ave Maria] versammelt. Sie laden zum Vergleich ein. Wie denn der Vergleich, der im politischen Raum oft zu Irritationen führt, sich in den Künsten als vielversprechende Methode bewährt – etwa bei Versionen eines Jazzthemas, bei malerischen Gestaltungen eines Motivs oder bei Inszenierungen eines Klassikers.

Man soll bekanntlich mit Eigennamen nicht kalauern, aber hier drängt sich der Hinweis geradezu auf, dass Chudák im Tschechischen der oder die Arme, Bemitleidenswerte ist. Wer, wenn nicht er oder sie, sollte Maria um Hilfe bitten. Für den Rest der Menschheit, der sich Unterstützung eher vom Sozialamt verspricht als vom Himmel, bleibt immerhin die Musik, die kleinere und größere Talente aus 7 Epochen – so die Ergänzung im Titel der Box – empfunden oder ausgeklügelt haben.

Die Anordnung der Stücke folgt nicht der Chronologie, sondern einer Dramaturgie der Kontraste, die erkennbar macht, wie unterschiedlich Komponisten auf den vorgegebenen und sehr knappen Text reagieren. Eine Pointe: ausgerechnet das berühmte Ave Maria von Schubert beruht gar nicht auf dem kanonisierten Gebet, sondern auf einem längeren Gedicht von Sir Walter Scott.

Die Anthologie enthält neben den üblichen Verdächtigen – Luigi Cherubini, Giuseppe Verdi, Anton Bruckner oder Antonín Dvořák – auch jede Menge kurioser Entdeckungen, so etwa eine Komposition zum eigenen Text von Karl May, ja, dem vertrauten Romanserientäter. Kurios auf ganz andere Weise ist auch die Unterlegung von Bachs Air aus der Suite Nr. 3 in D-Dur mit dem Text des Ave Maria durch Karl Schnürl. Der Brasilianer Herivelto Martins begrüßt Maria „wenn es am Hügel dunkel wird“ mit Tanzrhythmen, die unter anderem schon Vico Torriani, Heino, Rex Gildo, James Last und die Scorpions in ihr Repertoire aufgenommen haben, während sich der Operettenkomponist Robert Stolz in diesem Fall betont seriös geriert. Eine weitere Kuriosität ist das Ave Maria des sowjetischen Gitarristen Wladimir Wawilow, ein Ohrwurm wie Pachelbels Kanon, der seinen Weg als angebliches Werk des italienischen Komponisten Giulio Caccini aus dem 16. Jahrhundert um die Welt machte. Das kommt also auch vor: Man gibt nicht ein fremdes Opus als eigenes, sondern ein eigenes als fremdes aus.

Manche Komponisten scheinen sich durch das Sujet zu besonderer Innigkeit verpflichtet zu fühlen. Zum Teil unterbieten die Musiken in ihrer Schlichtheit das restliche Werk ihrer Erfinder. Vielleicht wollten sie den Gebrauchscharakter, den Platz in der Kirchengemeinde, nicht torpedieren. Unter den zeitgenössischen Kompositionen wurde die überzeugendste von Regina Wittemeier Andrea Chudak gewidmet. Andere scheren sich nicht um eine Differenzierung „geistlicher“ gegenüber weltlicher Musik und liefern Melodien, die man sich gut auch mit einem anderen Text vorstellen könnte. Andere wiederum, Rossini zum Beispiel, verraten sich als Opernkomponisten, selbst wenn sie nur ein Gebet vertonen. Auch die Sängerin bevorzugt häufig den Gestus der Fröhlichkeit über die bereits erhörte Bitte anstelle von Inbrunst und triefender Unterwerfung.

Den klaren, hellen Sopran von Andrea Chudak unterstützen oder ersetzen in einzelnen Stücken der Tenor Julian Rohde und der Bariton Matthias Jahrmärker sowie elf Instrumentalisten, unter ihnen drei Organisten.


Thomas Rothschild – 16. Juni 2020
ID 12301
CD-Link zu den 68 Ave Maria


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