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Tanz

Tanzen statt

plappern

CREATIONS X-XII mit dem Stuttgarter Ballett


Mackenzie Brown und Martino Semenzato in In Esisto von Vittoria Girelli | Foto (C) Roman Novitzky/ Stuttgarter Ballett

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Die PR-Außenstelle für das Tanztheater in der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten, personifiziert von einer Dame namens Andrea Kachelrieß, die den Beruf der Kritikerin seit Jahren ad absurdum führt – ein kritisches Wort im eigentlichen Sinn hat man von ihr innerhalb des Jubeljournalismus kaum entdecken können –, wusste schon drei Tage vor der Premiere: "Wie Tanz Energie in Bewegung verwandelt: Das werden die 'Creations X–XII' sicherlich auf sehr unterschiedliche Weise zeigen."

Nur ein paar Stunden davor hatte die überaus produktive Ballett-Pythia verkündet: "Elisabeth Schilling macht mit fünf Tänzerinnen und Tänzer (sic!) die polyrhythmischen Schichten der Musik sichtbar, ihre intellektuelle Ebene tanzt leichtfüßig mit." Das Ereignis mit der leichtfüßig mittanzenden intellektuellen Ebene, von dem sie da spricht, fand zwei Tage nach Erscheinen des Artikels statt. Die zunehmende Verkommenheit der Kulturkritik und ihrer Produzenten ist keine Neuigkeit. Die Medien brauchen keinen Druck von außen. Sie schaffen sich selber ab. Durch Willfährigkeit, die noch nicht einmal einer Bestechung bedarf.

Wie reimte doch der britische Dichter Humbert Wolfe? "You cannot hope to bribe or twist,/ thank God! the British journalist./ But, seeing what the man will do/ unbribed, there's no occasion to." (dt.: "Du kannst, Gott sei Dank! nicht hoffen, den britischen Journalisten zu bestechen oder zu verbiegen. Aber wenn du siehst, was der Mann ohne Bestechung tut, gibt es keinen Anlass dafür.") Das gilt nicht nur für den britischen Journalisten und nicht nur für Journalisten männlichen Geschlechts. Jedenfalls kann Marco Goecke die Hundekacke zu Hause lassen, wenn er Andrea Kachelrieß begegnet. Sie schmiert ihm, und nicht nur ihm – nein, nicht Hundedreck, sondern Honig ums Maul. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Frau nach dem frühen Tod der auf den legendären Horst Koegler folgenden langjährigen Ballettkritikerin der Stuttgarter Zeitung und der feindlichen Übernahme durch die Stuttgarter Nachrichten ein De-facto-Monopol hat, das sie weidlich nützt. Mit ihrer penetranten Dauerpräsenz kann in dem Hybrid, dessen Hälfte, die Stuttgarter Zeitung, einst namhafte Kulturredakteure wie Siegfried Melchinger, Henning Rischbieter, Hellmuth Karasek, Rolf Michaelis oder Ruprecht Skasa-Weiß vorweisen konnte, nur noch die Berichterstattung über Helene Fischer und den Eurovision Song Contest konkurrieren.

Das Ärgerliche an dieser Art von Journalismus im Dienste der Umsatzförderung ist, abgesehen von der Tatsache, dass er seine eigentliche Aufgabe verfehlt, dass auch unbescholtene Kritiker nicht mehr loben können, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, sie wollten sich an die Veranstalter ranschmeißen, selbst dann nicht, wenn es zum Lob Veranlassung gibt. Wo jeder Schmarren in den Himmel gehoben wird, ist die Begeisterung über das tatsächlich Besondere wertlos. Anerkennung hat nur vor dem Hintergrund der Bereitschaft zur Kritik im engen Sinn des Wortes, bis hin zum Verriss, Gewicht.

*

Unter diesem Vorbehalt sage ich jetzt, nachdem ich die Premiere besucht habe und mir ein eigenes Urteil bilden konnte, statt mir von den Choreographen einflüstern zu lassen, was ich schreiben soll: Ja, der jüngste Abend des Stuttgarter Balletts mit drei Uraufführungen unter dem Titel CREATIONS X-XII ist zumindest zu zwei Dritteln ein Volltreffer, auch wenn nicht erkennbar ist, was genau er in Bewegung verwandelt. Bewegung jedenfalls ist eins seiner Grundbestandteile. Das ist nicht weiter verwunderlich: Es kennzeichnet den Tanz wie der Gesang die Oper und gehört zu den konstituierenden Bedingungen des Balletts von Anfang an, als noch keine Lohnschreiberinnen Plattitüden in schiefe Bilder verwandelten.

Alle drei Choreographien stammen von Mitgliedern der Stuttgarter Compagnie. Zwei von ihnen verwenden zum Teil Auftragskompositionen. Das kann als vorbildlich gelten: Es wird hier nicht bloß auf das bereits Bewährte zurückgegriffen, sondern auch dem noch nicht erprobten Riskanten eine Chance gegeben. Der 37jährige Davidson Jaconello ist selbst Tänzer, als Komponist fürs Ballett allerdings kein Newcomer, sondern an verschiedenen Orten bewährt. Auch Marc Strobel, von Haus aus Perkussionist am Staatsorchester Stuttgart, hat schon mehrere Ballettmusiken geschrieben.

In Esisto von Vittoria Girelli zeichnet sich aus durch konstante Langsamkeit von Formationen unterschiedlicher Größe vor Lichteffekten in wechselnden Farben auf einer Breitwand an der hinteren Kulisse und auf schräg aufeinander zulaufenden Seitenwänden. Die Choreographin beruft sich auf Künstler wie Dan Flavin und James Turrell. Anders als bei Herbert Fritsch, bei dem die Radiomoderatorinnen (aktuell: mit Bezug auf seine Basler Premiere Vergeigt) reflexartig nach dem "tieferen Sinn" fragen, wird beim Ballett akzeptiert, dass Kunst in ihrer formalen Schönheit bestehen kann und keiner moralisierenden Botschaft bedarf.

In Lost Room von Fabio Adorisio tanzen die sieben Solisten vor gestaffelten schwarzen Flächen auf einer leeren Bühne. Die von Marc Strobel bearbeitete Musik von Rachmaninoff und Grieg gibt die Vorlage für hektische, bizarre Bewegungen und Figuren. Die Geschlechtergrenzen verschwimmen in dieser Choreographie. Die werbenden Männer und die sich hingebenden Frauen des klassischen Balletts sind hier weit entfernt.

Verglichen mit In Esisto und Lost Room wirkt Ascaresa von Alessandro Giaquinto, das längste Stück des Abends, wenig strukturiert, beliebig in seiner Aufeinanderfolge von, zugegeben: schönen, Bildern, für die ein Fragment eines Betonpfeilers auf der düsteren Bühne steht sowie ein ein Meter hoher Kieshaufen, der nach und nach symbolträchtig zusammenschmilzt und schließlich verschwindet. Es fehlt jedoch die Stringenz, die die Partikel zu einem Ganzen verbindet.

Ehe wir übermütig werden in der Prahlerei mit unserer angeblich so effizienten Demokratie, sei unser Unmut zu Protokoll gegeben über die Gäste des Sponsors Porsche, für die das Buffet im oberen Foyer abgeriegelt ist, damit sie ihren Sekt und ihre Häppchen ungestört vom Pöbel genießen können. Immerhin in einem Staatstheater, vor dem alle Steuerzahler gleich sein sollten. Denkste.



Christopher Kunzelmann, Eva Holland-Nell und David Moore in Lost Room von Fabio Adorisio | Foto (C) Roman Novitzky/ Stuttgarter Ballet

Thomas Rothschild – 28. Mai 2023
ID 14220
Weitere Infos siehe auch: https://www.stuttgarter-ballett.de


Post an Dr. Thomas Rothschild

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