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Ylva Stenberg (als Giulietta) und Sayaka Shigeshima (als Romeo) in Bellinis I Capuleti e i Montecchi - Romeo und Julia am DNT Weimar | Foto (C) Candy Welz

Bewertung:    



Bin ich in die falsche Oper geraten? Die Ouverture klingt verdammt nach Rossini. Sie ist aber von Vincenzo Bellini.

Vincenzo Bellini gehört offenbar zu den Favoriten des Teams Jossi Wieler/ Sergio Morabito/ Anna Viebrock. Schon in Stuttgart reüssierte es – noch unter der Intendanz von Klaus Zehelein – mit Norma und dann in der Intendanz von Jossi Wieler mit der Nachtwandlerin und den Puritanern. Jetzt, da Wieler seine Intendanz unaufgefordert und unbesorgt abgegeben hat, wieder „freier Regisseur“ ist und sich abwechselnd für das Musik- und das Sprechtheater entscheiden kann, ergänzt es seine Bellini-Pflege, eingeladen von der Operndirektorin Andrea Moses, am Deutschen Nationaltheater Weimar mit I Capuleti e i Montecchi – Romeo und Julia von 1830, jenem Stoff also, der in seiner Gestaltung von Shakespeare allgemein bekannt ist, von Bellini und seinem Librettisten Felice Romani aber unabhängig von Shakespeare verarbeitet wurde.

Das Bühnenbild von Anna Viebrock führt, wenn der Vorhang noch während der Ouvertüre hochgeht, nach Verona. Die Drehbühne verwandelt die Häuserfassaden zu einer Villa im Bauhausstil und später, bei Viebrock nicht ungewöhnlich, zu deren schmuckloser Hinterseite, wo die Welt der Julia versteckt ist, über deren Geschick die Männer vorne befinden. Projektionen wie aus einem Stummfilm ergänzen und verdoppeln das Geschehen oder den Text.

Der Chor der papistischen Guelfen, die im Kampf mit den kaisertreuen Ghibellinen stehen und zu denen die Familie der Capuleti gehört, setzt sich aus Kriegsinvaliden zusammen. Giulietta soll gegen ihren Willen mit einem der Guelfen, mit Tebaldo verheiratet werden. Sie spricht von ihrem Hochzeitsschmuck und kleidet sich als Soldatin mit Gewehr.

Die Regie forciert, abweichend vom Libretto, das Kriegsmotiv. Wenn sich die Liebenden begegnen, steigt Giuliettas von Romeo im Krieg getöteter Bruder aus dem Gully. Ob man daraus eine Aktualität ableiten kann, bleibt eher zweifelhaft. Dass Kriege von Übel sind, ist eine Binsenwahrheit. Man wird heute kaum jemanden treffen, der Kriege als solche befürwortet. Kontrovers wird es erst, wenn man nach ihren Ursachen fragt und nach den Umständen von Angriff und Verteidigung. Darauf aber kann die Oper und erst recht I Capuleti e i Montecchi keine Antwort geben, die über vorhersehbare Gesinnungsbekundungen hinaus geht.

Anders als bei Shakespeare erwacht Giulietta aus ihrem vorgetäuschten Tod bevor das Gift des verzweifelten Romeo seine Wirkung vollendet hat. Die beiden haben bei Bellini noch viel Zeit für ein langes Duett. Das mag dramaturgisch eine Schwäche sein, ist aber gut für die Logik des Musiktheaters. Wieler und Morabito setzen noch eins drauf. Während Bellini Giulietta, wenn auch unglücklich, überleben lässt, wird sie in Weimar von ihrem Vater erschossen. Der Sieg des Patriarchats? Eine Folge des Krieges? Oder doch, wie bei Shakespeare, einer Familienfehde?

Im Programmheft relativiert Sergio Morabito in einem wie stets kenntnisreichen und komplexen Essay Romeos Unschuld und damit die Tragik des Liebestods. Schuld an Giuliettas Tod ist also der Vater. Aber er hat, wenn man Morabitos Argumentation folgt, seine Gründe. Wie Selenskyj? Wie Putin? Machen wir's eine Nummer kleiner. Nicht jedes Werk der Weltliteratur und erst recht der Oper, in dem Krieg ein Motiv ist, ist ein Statement gegen den oder auch nur zum Krieg. Auch Krücken machen es nicht dazu. Aber vielleicht wäre es ohnedies naiv, anzunehmen, dass das Publikum das Theater mit einer anderen Einstellung verlässt, als es es betreten hat. So hätten es Kunstproduzenten gern. Aber so läuft es nicht ab. Idealismus mag einem ein gutes Gefühl verleihen. Der Wahrheit ist er nicht dienlich. Es reicht allenfalls für Selbstbetrug und leere Rhetorik.

Die hervorragende Staatskapelle Weimar unter der Leitung von Dominik Beykirch, deren Leistung zu würdigen einem leichter fiele, wenn der Intendant und die Operndirektorin nicht bei der anschließenden öffentlichen Premierenfeier buchstäblich jede Beteiligte und jeden Beteiligten außer dem Verfertiger der in der Tat miserablen Spargelsuppe unterschiedslos über den grünen Klee lobten, begleitet das Ensemble, aus dem der kräftige und strahlende Tenor Taejun Sun als Tebaldo, Uwe Schenker-Primus als der edle Intrigant Lorenzo, Sayaka Shigeshima als Romeo, der mit einem Tenor, einem Mezzosopran oder einem Alt besetzt werden kann und in Weimar, wie bei der Uraufführung in Venedig, von einer Frau, also als Hosenrolle, gesungen wird, und, nachdem sie sich nach anfänglichen Intonationsschwächen freigesungen hat, Ylva Stenberg als Giulietta herausragen.

Fazit: ein intelligenter und beglückender Opernabend hinter den Rücken von Goethe und Schiller. Als Beitrag zu den Themen, die uns zurzeit quälen, taugt er nicht.



I Capuleti e i Montecchi - Romeo und Julia am Deutschen Nationaltheater Weimar
Foto (C) Candy Welz

Thomas Rothschild - 4. Juni 2023
ID 14234
I CAPULETI E I MONTECCHI - ROMEO UND JULIA (Deutsches Nationaltheater Weimar, 03.06.2023)
Musikalische Leitung: Dominik Beykirch
Inszenierung: Jossi Wieler und Sergio Morabito
Bühne: Anna Viebrock
Kostüme: Dorothee Curio
Video: Ilya Shagalov
Dramaturgie: Sergio Morabito
Choreinstudierung: Jens Petereit
Besetzung:
Oleksandr Pushniak (Capellio)
Sayaka Shigeshima (Romeo)
Ylva Sofia Stenberg (Giulietta)
Taejun Sun (Tebaldo)
Uwe Schenker-Primus (Lorenzo)
Chor des DNT Weimar
Staatskapelle Weimar
Premiere war am 3. Juni 2023.
Weitere Termine: 09., 22.06./ 09.07./ 15.09./ 01., 29.10./ 16.11./ 26.12.2023// 20.01.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.nationaltheater-weimar.de


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