Kein Pferd
nirgends
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Elisa Badenes (in der Titelrolle) und Jacopo Bellussi (als Wronski) in Anna Karenina von John Neumeier - beim Stuttgarter Ballett | Foto (C) Roman Nowitzky/Stuttgarter Ballett
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Bewertung:
Im Jahr 2017 schuf John Neumeier in Hamburg sein abendfüllendes Ballett Anna Karenina, „inspiriert von Leo Tolstoi“. Im vergangenen März hatte die Stuttgarter Version ihre Premiere.
Ein Seitenmotiv des Romans eröffnet das Ballett. Karenin führt zur Zarenhymne einen Wahlkampf. Seine Karriere bedeutet ihm alles. Im weiteren Verlauf des Abends spielt das allerdings keine Rolle mehr. Ohne Worte lassen sich Karenins Motive kaum vermitteln.
Gleich darauf sehen wir einen Turnsaal. Aus dem Soldatenmilieu Wronskis ist bei Neumeier ein Sportverein geworden. Wronski fällt in einer der zentralen Szenen nicht vom Pferd, sondern einfach um.
Am Schluss steigert sich die Choreografie zu einem furiosen Finale wie von Fellini. Eine Modelleisenbahn fährt vorne über die Bühne und entgleist. Zugleich versinkt Anna im Bühnenboden. Ob das für jemanden, der den Roman nicht kennt, als Selbstmord zu entziffern ist?
Zahlreiche Subtilitäten des Romans fallen unvermeidbar nicht so sehr dem Umfang, wie den Einschränkungen der Gattung zum Opfer. An der Komplexität Lewins, der Züge seines Autors trägt, sind schon die vielen Verfilmungen des Stoffes gescheitert. Aber man wird diesem Abend nicht gerecht, wenn man ihn an Tolstois Meisterwerk misst. Wer über Anna Karenina mitreden will, muss schon den Roman lesen. Neumeier hat ein Ballett entworfen, nicht mehr und nicht weniger.
Die Rollen sind bei der Wiederaufnahme doppelt, davon der Graf Wronski mit zwei Gästen, besetzt. Bei der besuchten Vorstellung am Abend des 19. Oktober tanzten Elisa Badenes die Titelrolle und Jacopo Bellussi ihren Geliebten Wronski. So kann das Ballett ohne Überanstrengung an einem Tag gleich zwei Mal aufgeführt werden. Anna Karenina ist ja auch ein Stoff, wie geschaffen für ein Handlungsballett, vergleichbar dem Onegin. dem Supererfolg von John Neumeiers Stuttgarter Pendant John Cranko. Eigentlich müssten diese beiden Schöpfungen „Onegin und Tatjana“ und „Anna Karenina und Wronski“ heißen. In beiden Vorlagen steht der weiblichen Hauptfigur eine ebenbürtige männliche Figur gegenüber: ein gefundenes Fressen für eine Kunstform, die wie keine andere aus dem Wechsel von Soli und Duos besteht. Cranko und Neumeier konnten sich an den Werken von Puschkin und Tolstoi entlanghangeln, mussten nur beweisen, dass „Literatur“ nicht unbedingt der Worte bedarf, sondern diese auch durch bewegte Körper, jedenfalls teilweise, ersetzen kann.
Die Musik zu Anna Karenina stammt von so unterschiedlichen Komponisten wie Peter Tschaikowsky, Alfred Schnittke und Cat Stevens, alias Yusuf Islam. Für Onegin, mittlerweile seit 60 Jahren auf dem Spielplan, verwendete Cranko bearbeitete Musik von Tschaikowsky. Nicht nur die Stoffe also, auch die Kompositionen der beiden Ballette verneigen sich vor Russland, das für das klassische Tanztheater eine ähnliche Bedeutung hat wie Österreich für den Walzer oder die USA für den Stepptanz. Bei Neumeier allerdings wird Russland nur über den Stoff und die Musik Reverenz erwiesen. Was man sieht, führt in unsere Gegenwart im Nirgendwo und Überall. Die erste Szene etwa versetzt Karenin eher in die USA als nach Sankt Petersburg.
John Neumeier,12 Jahre jünger als John Cranko und Maurice Béjart, galt in deren Nachfolge als einer der großen Erneuerer des klassischen Balletts. Aber seither hat eine rasante Entwicklung stattgefunden. Spätestens seit der nur ein Jahr jüngeren Pina Bausch hat das zeitgenössische Tanztheater, jedenfalls in Deutschland, das Ballettpublikum gespalten. Was seinerzeit noch aufregend modern wirkte, hat heute den Geruch des Historischen, Musealen, das freilich von seinen nachwachsenden Fans gerade deshalb geliebt wird. Modern ist Anna Karenina à la Neumeier durch das Dekor und durch Requisiten wie Handys, nicht durch Positionen. Der Spitzentanz gibt noch (oder wieder?) den Ton an. Neumeier schwelgt geradezu in einer Dichte von Sprüngen, Drehungen, Hebungen, im atemlosen Wechsel von Ensemble-, Solo- und Duoszenen inmitten rasch bewegter Bühnenbildteile. Das hat was. Und Putin ist weit entfernt.
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Elisa Badenes (in der Titelrolle) und Clemens Fröhlich (als Alexej Karenin) in Anna Karenina von John Neumeier beim Stuttgarter Ballett | Foto (C) Roman Nowitzky/Stuttgarter Ballett
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Thomas Rothschild - 22. Oktober 2025 ID 15522
ANNA KARENINA (Opernhaus Stuttgart, 19.10.2025)
Ballett von John Neumeier
Choreographie, Bühnenbild, Licht und Kostüme: John Neumeier
(Anna Karenina trägt A-K-R-I-S- / Albert Kriemler)
Musik: Peter Tschaikowsky, Alfred Schnittke, Cat Stevens /Yusuf Islam
Mitarbeit am Bühnenbild: Heinrich Tröger
Video und Grafik: Kiran West
Besetzung:
Anna Karenina ... Elisa Badens a.G.
Alexej Karenin ... Clemens Fröhlich
Serjoscha ... Mitchell Millhollin
Graf Alexej Wronski ... Jacopo Bellussi a.G.
Lewin ... Henrik Erikson
Kitty ... Abigail Willson-Heisel
Dolly ... Daiana Ruiz
Stiwa ... Martino Semenzato
Ein Muschik ... Jason Reilly
Stuttgarter Ballett
Staatsorchester Stuttgart
Dirigent: Wolfgang Heintz
UA an der Hamburgischen Staatsoper (Hamburger Ballett): 2. Juli 2017
Stuttgarter Premiere (Stuttgarter Ballett): 14. März 2025
Weitere Termine: 23., 24.10.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.stuttgarter-ballett.de
Post an Dr. Thomas Rothschild
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