Netherlands Radio Philharmonic Orchestra & Netherlands Radio Choir
Karina Canellakis
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Bewertung:
Gestern gastierten Netherlands Radio Philharmonic Orchestra & Radio Choir beim MUSIKFEST BERLIN. (Ich hatte den Klangkörper bereits, ohne Chor, vor zehn Jahren im Concertgebouw in Amsterdam erlebt - das war irgendwie zufällig, weil ich dort als Touri unterwegs war und es halt an jenem Abend dort musizierte; ich wollte unbedingt das Haus auch mal von innen sehen und v.a. hören.)
Chefdirigentin ist seit 2019 die in den USA geborene Karina Canellakis (44); sie hat griechisch-russische Wurzeln, und ihre musikalische Karriere begann sie als Geigerin, unter anderem in der Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker - Simon Rattle soll es gewesen sein, der sie zum Dirigentenstudium (später an der Juillard School) ermutigte.
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Erst vor fünf Tagen waren sie, das Orchester und der Chor beim LUCERNE FESTIVAL, um dort die in Auftrag gegebene Kantate L'Azur von Robin de Raaff (57) uraufzuführen; sie bildete dann auch den eigentlichen Hauptkern des mit immerhin drei zeitgenössischen Kompositionen - auch Messiaens allererstes Orchesterstück Les offrandes oubliées sowie Boulez' zwei René-Char-Vertonungen Le soleil des eaux zählten dazu; sie wurden nach der Pause mit den Sinfonischen Tänzen von Rachmaninow ergänzt - überanspruchsvollen Berliner Konzerts in der leider nur zu etwa zwei Dritteln besetzten Philharmonie.
Vielleicht ein bisschen zu viel an Neuer Musik? "Uneingeschworene" überlegen sich dann schon, ob sie bei so viel Übermaß an Neuartigem freiwillig dahin gehen sollten.
Na jedenfalls - ich war immerhin da!
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Der holländische Komponist Robin de Raaff - beim Musikfest Berlin 2022 | © Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn
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Weil sich de Raaffs Kompositionsauftrag speziell auf den 100. Geburtstag von Pierre Boulez in diesem Jahr bezog, griff der Holländer auf das Gedicht L'Azur des französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé (1882-1898) zurück - auch Boulez hatte nämlich ein Faible für Mallarmé, von dem er drei seiner Sonette für sein einstündiges Pli selon pli vertonte.
Robin de Raaff:
"Der erste entscheidende Schlüssel war für mich der Moment, als ich das Gedicht zum ersten Mal las. In der vorletzten Strophe hört der Dichter das Blau des Himmels 'in den Glocken singen'. Und Boulez war von Kirchenglocken besessen, verständlicherweise. Die Lektüre dieser aufschlussreichen letzten Strophen des Gedichts war für mich der Heureka-Moment, der mir die Gewissheit verschaffte, dass ich auf das absolut perfekte Gedicht für diesen Anlass gestoßen war."
[...]
"Das Spiel mit poetischen Größen war der zweite entscheidende Schlüssel für meine Interpretation des Gedichts. In meiner musikalischen Übersetzung stelle ich zuerst eine schwache und zerbrechliche Gegengröße vor: den schönen Himmelblauen Bläuling, ein Schmetterling mit einer unglaublich kurzen Lebensdauer. Danach führe ich eine noch gewaltigere Größe als Mallarmés L’Azur ein, nämlich den Kosmos, der durch den Schmetterlingsnebel, einen galaktischen planetaren Nebel, symbolisiert wird."
Martin Wilkening, der die o.g. Komponistenzitate in seinem Programmheft-Essay Himmel und Erde zusammentrug, brachte de Raaffs L'Azur wie folgt auf den Punkt:
"Robin de Raaffs Musik kreist, ausgedünnt und weitgespannt, zwischen extremer Tiefe und extremer Höhe, in jenem spektralen Klang, der vom ersten Einsatz des Chores an das Himmelsblau repräsentiert, und der, in Abspaltungen und Modifikationen, den Spannungen des Textes präzise klanglich-harmonische Gestalt verleiht. Er abstrahiert als Grundstimmung des Stückes jenes 'Läuten' des Azurs im letzten Satz, das dann an der entsprechenden Durchbruchsstelle des Gedichts auch konkret zu einem Spektakel von Röhrenglocken, kleinen Glocken und auch echten Kirchenglocken aus der Ferne wird." [...] Und letztlich erweiterte de Raaff "das Mallarmé-Gedicht um vier Zeilen. In dieser Coda, am Schluss des etwa 18-minütigen Werkes, wird die gedankliche Perspektive des Textes um eine weitere Dimension ergänzt, die das begrenzte Weltbild aufbricht: durch das Himmelsblau hindurch in kosmische Weiten, zu einer naturwissenschaftlich begründeten Harmonie, in der sich Mikrokosmos und Makrokosmos verbinden. In diesen letzten vier Zeilen erscheint die Gestalt eines Schmetterlings zusammen mit dem Anblick des galaktischen 'Schmetterlingsnebels' in 2.100 Lichtjahren Entfernung."
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Andächtiges Lauschen.
Und herzlicher Beifall für den anwesenden Komponisten.
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Andre Sokolowski - 1. September 2025 ID 15438
MUSIKFEST BERLIN (Philharmonie Berlin, 31.08.2025)
Olivier Messiaen: Les offrandes oubliées
Pierre Boulez: Le soleil des eaux für Sopran, Chor und Orchester
Robin de Raaff: L’Azur - Kantate für Chor und Orchester auf das gleichnamige Gedicht von Stéphane Mallarmé (DEA)
Sergej Rachmaninow: Sinfonische Tänze op. 45
Liv Redpath, Sopran
Netherlands Radio Choir
(Einstudierung: Benjamin Goodson)
Netherlands Radio Philharmonic Orchestra
Dirigentin: Karina Canellakis
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinerfestspiele.de/musikfest-berlin
https://www.andre-sokolowski.de
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