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Kunst Feuilleton

Teil IV

Entfernte Nähe

Die Iranreise geht zu Ende
Dies ist der letzte Beitrag zum Projekt „Entfernte Nähe. Neue Positionen iranischer Künstler“ vom 19.03. bis 09.05.04 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin


Zum Inhalt:

Drei Werke aus der Ausstellung werde ich noch vorstellen:
Kaveh Golestan | Ghazel | Peyman Hooshmandzadeh | Mehran Mohajer

Darauf folgt ein kurzer Einblick in die iranische und exiliranische Literatur mit einem Ausschnitt aus Abbas Maroufis Roman „Das Jahr des Aufruhrs“, der im Herbst dieses Jahres auf Deutsch erscheinen wird.

Zu guter Letzt ein Einblick in die Renaissance der Musik des Iran - unter anderem mit einem Song von O-Hum, der im Iran verbotenen Kultrockband.

1. Ghazel
Miss Universe, Ghazel (kein Entstehungsdatum)

Ghazels Schwerpunkt liegt in der Position der Frauen im Iran und deren Veränderung.
Jedes Mädchen träumt davon, eine „Miss something“ zu sein, irgendwann.
Eine positive Komik im Gefühl der Einsamkeit der alten, ein bitterer Beigeschmack, ein Schlag ins lackierte Gesicht der jungen Frau und die stille Hoffnung einer jeden, dass
es vielleicht irgendwann einmal nicht mehr wichtig ist, eine Miss Something zu sein.
Ghazel verließ 1985 den Iran und ging dann nach Frankreich. Sie besucht ihre Heimat weiterhin.


2. Peyman Hooshmandzadeh
Peyman Hooshmandzadeh, aus der Serie „Hands and Belts“ 1998, s/w Fotografie, 50 x 70 cm

Für diese Serie sprach Peyman Hooshmandzadeh Männer auf der Straße an, die dann vor seiner Kamera posierten. Die Detailfotografien enthüllen den oberflächlichen Machismo der Männer sowie ihre tief sitzende Unsicherheit.
Der junge Peyman Hooshmandzadeh war bei der Besprechung seiner Bilder dabei. Er schien fast das Gegenteil dessen darzustellen, was er in dieser Serie fotografierte. Er sagt über sich selbst:
„Ich machte die Aufnahmeprüfung dreizehn Mal, bevor ich 1993 an der Open Universitiy angenommen wurde. Als mein Name auf der Liste der erfolgreichen Kandidaten stand, besang Mutter mich mit den Worten: 'Ich sah einen Mann, der war wie ein Sonnenstrahl.'
Bis 2000 weigerte ich mich, mein Studium zu beginnen, aber dann erwischte mich der 'Sonnenstrahl' in einem schwachen Moment. Zuvor war es mir schon gelungen, hier und da einen Text zu veröffentlichen, aber seitdem machte ich nur noch stumpfsinnige Jobs bei verschiedenen Schnarchblättern. Meine Mutter ist sogar dafür schon dankbar. Mit dem Rosenkranz in der Hand segnet sie ihre Schwiegertochter und sagt: 'Danke, dass du meinen Sohn erträgst!' “

3. Mehran Mohajer
Mehran Mohajer, Diptychen „Traditional Photo Studios“ (2003), Druck auf Fotopapier


Mehran Mohajer nahm Fotostudios von der heiligen Stadt Mashhad auf:Hintergründe mit Heiligen, Imams, religiösen Ikonen, vor denen man sich fotografieren lassen kann. Es sind Erinnerungen an eine Pilgerstadt, die wegen der Serienmorde an Prostituierten durch einen religiösen Fanatiker Furore machte. Diese Morde wurden auch von Hassan Zadeh in seinem Werk thematisiert, das auf dieser Ausstellung zu sehen war. (Hassan Zadeh wurde im ersten Teil des Beitrags in kultura-extra besprochen.)



Zur zeitgenössischen iranischen Literatur

„Mittlerweile weiß man, dass in Iran nichts so unglaublich ist wie die Wirklichkeit “,
schreibt der Islamwissenschaftler und Publizist Navid Kermani und beschreibt damit den Ursprung einer Literatur, in der die Ebenen von Traum und Wirklichkeit nicht voneinander zu trennen sind.
Daneben gibt es aber auch den schlichten, linearen Erzählstil einer Marjan Shirmohammadie, die Geschichten aus dem Leben der städtischen Bevölkerung erzählt.

Abbas Maroufis Roman „Das Jahr des Aufruhrs“ ist eine Parabel über Macht und Willkür im gesellschaftlichen wie im privaten Leben einer Frau. Der Roman war im Iran verboten und wurde erst 10 Jahre später, 2003, wieder neu aufgelegt.
Maroufi wurde 1957 in Teheran geboren und lebt seit 1996 in Berlin. Mit seinem Roman „Symphonie der Toten“ erlangte er internationales Ansehen.

Ausschnitte aus dem im Herbst 2004 erscheinenden Roman „Das Jahr des Aufruhrs“:
„Schon seit dem frühen Morgen war Hauptmann Khosrawi mit den Vorbereitungen für die Feier zur Einweihung des Galgens beschäftigt… Er hatte bekannt gegeben, dass alle Leute Punkt vier Uhr nachmittags daran teilnehmen müssen und hinzugefügt: „Es soll nur keiner wagen, nicht zu kommen!“
….
Die Einheiten der Parade näherten sich, und niemand gab einen Laut von sich. Nur Achawis Ziege machte einmal „Meck“.
Da lachten die Leute und es entstand eine allgemeine Unruhe. Alle Blicke richteten sich auf Achawi, der mit seiner Ziege gekommen war, um zuzuschauen. Er hatte eine hübsche rote Leine an das Lederhalsband der Ziege gebunden und sich ihr Ende um das Handgelenk geschlungen. In der anderen Hand hatte er einen Weidenzweig, den er ab und zu der Ziege vor das Maul hielt, wenn sie unruhig wurde.
Achawi war ein schwermütiger Mann, der seit vielen Jahren in der Pusteloogasse hinter der Färberei Elias in einem zerfallenen Gemäuer hauste. Er war ein harmloser Mensch, der weder bettelte noch sich mit jemandem anlegte. Doch blieb er auch nie hungrig. Er war immer schweigsam, und abgesehen von der Antwort auf einen Gruß oder ein paar Wörtern zu seiner Ziege sagte er nichts….An jenem Tag hatte er sich auf dem Stadtplatz eingefunden, um den Galgen zu bewundern, und stand in einer Ecke.
Die Leute lachten und schrien, die geordneten Reihen gerieten durcheinander, die Polizisten waren verwirrt, Hauptmann Khosrawi war an seinem Platz zu Stein erstarrt und die marschierenden Gruppen blieben am Anfang des Stadtplatzes stehen und traten auf der Stelle.
Hauptmann Khosrawi sagte:“ Du Zuhälter, du Spion, du Hundesohn!“ und stand stramm.Gerade in diesem Augenblick wurde ein Kanonenschuss abgefeuert, das überraschte die Menge und scheuchte sie von den Plätzen auf. Die Polizisten nahmen Hab-Acht-Stellung ein, die russischen Soldaten stiegen wohl oder übel von ihren Pferden und stellten sich mit vorgereckter Brust neben sie. Und jetzt zogen die Kolonnen ein.
Das Musikkorps marschierte um den Stadtplatz herum und bog in die Pilgerstraße ein und die anderen Abteilungen folgten ihm rund um den Stadtplatz und die Pilgerstraße:
Die Sondereinheiten für den Ausnahmezustand, die Sicherheitskräfte, die Ordnungsorgane der Burg die Soldaten aus den Dörfern Ssufian, Schahmirsad und Dragasin, das Regiment von Groß-Ssemnan und andere Gruppen. Es wollte kein Ende nehmen, immer noch stampften sie hinten in der Khosrawi-Straße heran und wirbelten Staub auf.
….
Der Stadtplatz dröhnte unter den Stiefeln, tamtam, tamtam, tamtam, und der Berg warf das Echo zurück. Sie kamen und zogen vorbei, und als die letzte Abteilung in die Pilgerstraße eingebogen war, hob Hauptmann Khosrawi die Hand, Oberfeldwebel Hekmat gab ein Kommando und die Polizisten präsentierten das Gewehr. Dann schrie er: “Rührt Euch!“.
Doktor Ma´ssum streckte seinen Kopf vor und sagte leise Hauptmann Khosrawi ins Ohr: „Wen wollen Sie denn aufhängen lassen, Hauptmann?“
Hauptmann Khosrawi breitete die Arme aus, zuckte mit den Achseln und zog die Lippen ein, dann trat er langsam ein paar Schritte vor, und direkt neben dem Galgen stellte er sich mit finsterer Miene auf die Ummauerung des Wasserbassins. Ohne eine Rede zu halten, ließ er seinen Blick über die Leute rund um den Stadtplatz laufen und zeigte schließlich mit dem Finger auf Achawi. Zwei Polizisten rannten auf Achawi zu, packten ihn an den Armen und schleiften ihn heran. Die Ziege wurde mitgeschleppt und meckerte.
„Nein, ihr Dummköpfe“, sagte Hauptmann Khosrawi, „bringt die Ziege!“
Die Polizisten ließen Achawi los und nahmen die Ziege auf den Arm, jetzt zog Achawi an der Leine und rutschte auf dem Hinterteil auf dem Boden. Er wollte seine Ziege nicht hergeben.
„Laß ab, blöder Kerl!“, rief Hauptmann Khosrawi.
Mirsa Hassan zeigte mit seinem Stock auf Hauptmann Khosrawi: “Laß du ab, blöder Kerl!“
Wieder schrien die Leute ganz erregt durcheinander. Die Polizisten zogen an der Ziege und Achawi ließ die Leine nicht los, er sah sehr bekümmert aus. Auf dem Boden kniend versuchte er, die Leine an sich zu ziehen, und er sagte flehentlich etwas, was in dem Gejammer der Ziege unterging.
….
Die Leute brüllten durcheinander und wollten vorstürmen, aber die Polizisten trieben sie mit den Gewehrkolben zurück. Hauptmann Khosrawi schrie da oben etwas, doch es war unverständlich, was er sagte.
Zwei weitere Polizisten mischten sich ein. Achawi wälzte sich auf dem Boden und ließ die Leine nicht los. Der Kopf der Ziege war jetzt ganz nahe bei seinen Händen, er hatte seinen Blick auf sie geheftet und schluchzte. Die Ziege jammerte, sie war dem Ersticken nahe und gab menschliche Laute von sich, sagte:“Nein, Nein!“
Vielleicht war es auch Achawi, der „Meck, meck!“ schrie.
Jetzt befanden sie sich direkt in der Mitte des Stadtplatzes neben dem Galgen. Hauptmann Khosrawi stieg von der Mauer herab und schnitt die rote Leine durch. Die Polizisten, die an der Ziege zogen, fielen nach hinten, aber sie hielten die Füße des Tieres in Händen. Zwei Polizisten zogen Achawi zu den Leuten hin. Und Stille breitete sich aus.
Hauptmann Khosrawi bekam die Lage wieder unter Kontrolle, er schoss in die Luft, stieg auf die Mauer zurück und sagte:“Bindet ihr die Vorder- und Hinterfüße zusammen!“

Hauptmann Khosrawi befahl mit einer unvergesslich herrischen Handbewegung:“Hinrichten!“
Das Seil am Galgen wurde hochgezogen, einen Augenblick später schlug die Ziege zwischen Himmel und Erde mit allen Vieren um sich und meckerte laut. Den Leuten stockte der Atem. Dann verendete die Ziege jämmerlich.

Hauptmann Khosrawi fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum: “Wenn ihr nicht wisst, was Schemr in der Wüste von Kerbela getan hat, werdet ihr es von jetzt an wissen…. Manche legen ganz im Stillen ein seltsames Verhalten an den Tag, das wir uns nicht erklären können. Sie beten nach ganz verschiedenen Richtungen, Richtung Russland, Richtung Indien, Richtung Türkei, ich weiß von dem allen, und ich werde nicht zulassen, dass diese Missetaten fortgesetzt werden. Jeder, der nicht in die von Rasmara bestimmte Richtung betet, wird hingerichtet….“ (veröffentlich im dem Katalog zur Ausstellung)


Marjan Shirmohammadi
Die junge dreißigjährige Schauspielerin und Schrifstellerin Marjan Shirmohammadi aus Teheran las im Rahmen des Projekts „Entferne Nähe“ aus ihren Erzählungen „Karawanserei“. Die Lesung war auf Persisch mit anschließender deutscher Übersetzung.
Vor der Lesung wurde sie gefragt, wie sie zum Schreiben kam. Daraufhin erzählte sie diese Geschichte:
Zum Schreiben kam sie im Haus der Tante, der Schwester ihrer Mutter. Das Haus glich mehr einem Schloss mit vielen Gemälden an der Wand und Spiegeln an der Decke. Dort lag sie als Kind gerne auf dem Boden, schaute sich die Bilder und die tausendfache Abbildung ihrer selbst an der Decke an.
Verliebt war sie in die Geschichten des Gärtners ihrer Tante. Sie handelten von kleinen Menschen, die im Garten wohnten und nachts auf seinem Bett spielten. Oft genug wünschte sie sich, einen zu finden und in ihre Tasche zu stecken.
Besonders gerne war sie im Keller des Schlosses. Vor allem, wenn ihre Tante die Treppen hinabstieg, um das Bettzeug für die Gäste zu holen. Sie bat dann, mit hinuntergehen zu dürfen - in sehnsüchtiger Erwartung des schönsten Augenblicks. Des Augenblicks nämlich, an dem die Tante das im Keller aufgetürmte Bettzeug schüttelte und unzählige Jasminblüten wie Regen auf sie herabfielen.
Morgens wurde sie durch bunte Lichter aus dem Land der Träume geholt. Leuchtende Sonnenstrahlen, die wunderbar rot, gelb, blau und grün durch die farbigen Fenstergläser fielen. Im Haus ihrer Tante hat sie Farbe und Licht erst richtig kennengelernt.
Als ihr Onkel starb, musste ihre Tante das Haus verkaufen. An dem Tag, als alles entfernt wurde, hatte sie für einen Augenblick das Bedürfnis, die leeren Wände des Hauses zu beschreiben. Sie fand Kreide, schrieb und weinte. An diesem Tag begann sie zu schreiben.


In der Erzählung „Karawanserei“ betrachtet Marjan Shirmohammadi das Leben durch die Augen des fünfzehnjährigen Abbas.
Eine Zusammenfassung der Lesung:
Abbas wächst in einem armen Stadtviertel auf, an der Peripherie der Großstadt, wo es auch keine Kinos gibt. Sein Alltag ist geprägt von Traurigkeit und Brutalität. Dem entflieht er als heimlicher Beobachter auf das Dach der alten Karawanserei, die als Kulisse für einen Film benutzt wird. Ein benachbartes Dach, das zum Haus der Familie eines Freundes gehört, dient ihm und seinen Freunden als Brücke in das fremde und faszinierende Land der Filmemacherei. Auf dem Dach der Karawanserei beziehen sie Posten, von dem aus sie die Dreharbeiten sehr gut sehen können. Mit Adleraugen beobachten sie die Geschehnisse der Dreharbeiten, sind schweigsam wie Gräber und weichen keinen Zentimeter von ihrem Platz. Am Ende würde man sie verscheuchen, oder andere Kinder würden an ihrer Stelle dort sitzen! Die Filmleute sind nett und lassen sie dort oben sitzen. Sie sind ja auch harmlos und stören nicht. Zu Abbas Erstaunen befindet sich auch die Schauspielerin, die seine Schwester so sehr verehrt, unter den Filmleuten. Während einer Unterbrechung der Dreharbeiten, als alle zu Mittag essen, werden die Kinder auf dem Dach gefragt, ob sie hungrig seien. Nein, sie seien nicht hungrig, obwohl sie seit Stunden nichts gegessen hatten. Sie wollten aber auf keinen Fall ihren Platz auf dem Dach aufgeben. Die Schauspielerin sorgte dafür, daß sie doch herunterkommen und sich umschauen konnten. Ausgerechnet sie, in die seine Schwester so vernarrt war, sprach sie an, redete mit ihm!
Es war ein Traum, der in Erfüllung ging.
Aber auch dieser Tag fand ein Ende, und da wurde er traurig. Auf dem Heimweg dachte er an die Prügel, die ihn zu Hause erwarteten. Vorher kaufte er noch alle Poster von der Schauspielerin, die er im Laden finden konnte. Nicht einmal seiner Schwester durfte er davon erzählen.
Irgendetwas war passiert.
Shirmohammadi wurde 2002 von der Goldschiri-Stiftung als beste Debüt-Autorin in der Kategorie Kurzprosa ausgezeichnet.

Shahrnush Parsipur wurde 1946 im Iran geboren und ist heute eine der bedeutendsten iranischen Schriftstellerinnen. Insgesamt saß sie fünf Jahre im Gefängnis, unter anderem deswegen, weil ihr der Schleier verhasst ist. 1994 ging sie ins amerikanische Exil.
Ihre Werke stellen die Lebensrealität iranischer Frauen in den Mittelpunkt. Shahrnush Parsipur ist politisch engagiert und eine der mächtigsten weiblichen Stimmen, die zunehmend Einfluss auf die iranische Kultur ausüben. Auf Deutsch erschien ihr Roman „Tuba“.
Ihr 1976 geschriebene Roman „Die kleinen, schlichten Abenteuer des Baumgeistes“ wurde erst 1999 nach Überarbeitung in einem schwedischen Exilverlag veröffentlicht.
Der Roman handelt von Ahmad, der häufig Affären mit verschiedenen Frauen hat. Er versucht diese „Abenteuer“, die er eigentlich für unmoralisch hält, vor sich selbst zu rechtfertigen.
In der folgenden Szene aus dem Roman „Die kleinen, schlichten Abenteuer des Baumgeistes“ flirtet Ahmad mit einer Frau, die Tchitchini heißt. Während sie alleine tanzte, kam er zu folgenden Überlegungen:
„Keiner von uns begleitete sie. Ihre Bewegungen waren zu freimütig. Ich überlegte mir, dass wir nicht einmal im Dunkeln unsere Haut abstreifen konnten. Vermutlich hatten die anderen Recht. Vermutlich hatten wir alle Recht. Ich verurteile niemanden. Ich weiß, die Leute haben immer Recht. Wenn sie nicht tanzen, wenn sie nicht schreien, wenn sie sich verkriechen oder verbergen, wenn sie schweigen, haben sie stets Recht. Für all das haben sie einleuchtende Gründe. Manche ihrer Begründungen glichen jedoch denen eines Maulwurfs. Der Maulwurf hatte sich zu Recht so sehr gefürchtet, dass er deswegen schließlich erblindet war. Das stimmt tatsächlich. Es war das gute Recht des Maulwurfs, in absoluter Finsternis zu leben. Dennoch hatte ich gelegentlich über Maulwürfe nachdenken müssen, in der Einsamkeit meiner Wohnung in Monirieh.
In den schmutzigrosa gestrichenen Räumen hatte ich mich gefragt, weshalb der Maulwurf sich vor Jahrmillionen unter die Erde geflüchtet hatte. Und weshalb er auf ewig dort geblieben war.
Tatsächlich kann ich mir sein Verhalten immer noch nicht erklären.
Damals in jener Nacht schien mir, als verbreite sich das Mädchen wie eine wahre Farbe unter den Maulwürfen. Ich wollte aufstehen und mit ihr tanzen. Eine Stimme befahl mir, steh auf! Aber meine Beine waren schwer. Ich blieb bei den anderen, vielleicht war ich auch zu betrunken.“ (Aus dem Katalog zur Ausstellung)

Zur immer wiederkehrenden Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Realität antwortete Frau Parsipur:
Sie habe die Frage erwartet und sich darauf vorbereitet. So sei es ihr jetzt möglich, sie zu beantworten. Sehr interessant fand sie die Erkenntnis, dass das Auge die Abbildung der Gegenstände in umgekehrter Form weiterleitet. So ging es auch in ihrem Traum: „Da habe ich ein Haus gesehen, dass ich in Wirklichkeit nie gesehen hatte. Die Treppe hatte ich zwar zuvor gesehen, aber auf der anderen Seite, und im Traum geht sie abwärts, in Wirklichkeit aufwärts. Der Keller war im Haus der Großmutter im 2. Stock.
Ein Teil des Hauses von James Bond befand sich in der Mitte. Deswegen meine ich, daß Prosaliteratur ein Traum von der Wirklichkeit ist.“

Oder wie Maroufi über Hedayats „Blinde Eule“ sagt: „Vielleicht erweist sich dieser Roman als ein so hervorragendes Werk, weil du dich wie im Traum immer zwei Spiegeln gegenüber siehst und, wenn du träumst, von dem Spiegel des Traums in den Spiegel des Wachseins schaust, oder nein, wenn du wachst, wie gebannt auf deine eigenen Träume starrst.“ - Eine gute Beschreibung iranischer Gegenwartsliteratur.


Zur Lage der zeitgenössischen iranischen Musik

Iranische Musik war in einem langen Winterschlaf, aufgezwungen durch die Iranische Revolution, die nur Revolutionshymnen und nach und nach auch die klassische persische Musik zuließ. Weibliche Solostimmen waren verboten, zu sinnlich und provozierend. Es bedurfte einer ganzen Generation, um die iranische Musik wieder zum Leben zu erwecken. So werden tradierte Formen der Musik verbunden mit modernen Einflüssen.

Eine Auswahl ist hier bei kultura-extra zu hören. Darunter die Kultband O-Hum mit einem Song aus ihrer unveröffentlichten CD, sowie Parissa, die „für die höchsten spirituellen Qualitäten der persischen Musik steht“ (Loyd Miller, Music and Song in Persia).

  • 2. O-Hum - Darvish von der unveröffentlichten CD „Nahal-e Heyrat, 1999
    (O-Hum heißt im übrigen übersetzt „Illusion“)
  • 3. Axiom of Choice – Mystics and Fools
    von der CD “Unfolding. A Trans-Global Exploration of Omar Khayyam`s
    Mystic Vision”, 2002
    Band aus den USA, Elemente aus verschiedenen Musikkulturen mit Gypsy als Basicsound
  • 4. Rumi – Vay del-e-man
    Live concert in Harekat Hall – Teheran 2003
    Sufi meets Rock / (Rumi ist der persische Dichter und Mystiker)
alle vier Lieder copyright Haus der Kulturen der Welt 2004
Mehr Informationen: www.hkw.de



Zum Schluss noch ein paar Worte: Das Projekt „Entfernte Nähe“ habe ich von Beginn an verfolgt. Zunächst begeistert von der positiven, einladenden Atmosphäre im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, wurde ich zunehmend skeptischer. Die Debatten waren zu wenig kontrovers, die Ausstellung zu wenig provokativ und zu durchschaubar. Auch wenn dieses Projekt zweifelsohne einen unvergleichlichen, einzigartigen Einblick in die iranische Kultur und Exilkultur gab, hat doch etwas Streitbares gefehlt. Sicherlich sind Menschen, die 20 Jahre Terror und Gewalt in ihrer Heimat aushalten mussten oder deswegen vertrieben wurden, müde der immerwährenden Thematisierung des Krieges, der Folter und des Leids. Aber ein Projekt dieses Ausmaßes, das fast zwei Monate lang Veranstaltungen anbot, hat auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Es sollte über den Schatten des Harmoniebedürfnisses springen und Realitäten formulieren, die gerade auch in dieser Ausstellung einen richtigen Platz gefunden hätten.
Von welchen Kontroversen rede ich?
Zweierlei.
Zum einen habe ich eine Thematisierung des Verhältnisses Deutschland – Iran vermisst. Die Geschichte beider Länder ist immer wieder auf nicht ganz erfreuliche Art miteinander verbunden gewesen und sollte auf einer Ausstellung des einen Landes in der Hauptstadt des anderen Landes seinen Platz finden.
Persien wurde 1935 offiziell in Iran umbenannt. Die Herrscher des alten Iran bezeichneten sich und das iranische Volk als arische Rasse. Iran sollte als Heimat der vermeintlich historisch nachgewiesenen arischen Rasse ausgewiesen werden. Den Ariernachweis hatte sich aber schon Nazideutschland eingeheimst und war damit in Zugzwang geraten. Nazideutschland konnte es sich außenpolitisch nicht leisten, das iranische Volk nicht als Arier anzuerkennen. So wurden in Deutschland ansässige Iraner ebenfalls Arier.
Auch ökonomisch klappte das prima mit den beiden Staaten: Die deutschen Exporte in den Iran lagen 1937 – 1938 mit 27% an zweiter Stelle hinter der Sowjetunion. Als sich 1938 Reza Shah weigerte, den Wirtschaftsvertrag mit der Sowjetunion zu verlängern, rückte Nazideutschland sogar auf Platz 1 der in den Iran exportierenden Länder mit 41,5%.
Erst 1943 erklärte Iran Deutschland den Krieg und stellte Transportkapazitäten der transiranischen Eisenbahn für Nachschubzwecke zur Verfügung. Dennoch wurde die nationalistische Ideologie fortgesetzt.
Deutschland blieb mehr oder minder mit Iran im Geschäft. So verdiente Deutschland im Iran-Irak-Krieg 1980-1988 Milliarden von Dollar durch Geschäfte mit beiden Kriegsparteien. Auch im politischen Bereich sind die deutsch-iranischen Beziehungen erfolgreich. Deutschland unterhielt gute Beziehungen zum gestürzten Schah-Regime.
Auf einer Demo anlässlich des Schah-Besuchs in Berlin wurde Benno Ohnesorg von Polizisten getötet. Nach wie vor sind deutsche Politik- und Wirtschaftseliten mit der Iranischen Republik verbunden.

Zu dieser historischen Dimension kommt noch die aktuelle hinzu - und zwar im Bereich deutscher Flüchtlingspolitik.
Die unmenschlichen Lebensbedingungen im Iran trieben viele Menschen ins Exil oder auf die Suche nach einer neuen Heimat. Und die, die weder Geld noch gute Kontakte haben, leben hier in Deutschland von 40 EURO monatlich eingepfercht und gettoisiert in Flüchtlingsheimen, Menschen zweiter Klasse.
Von den kumpelösen deutsch-iranischen Beziehungen ist da nichts mehr zu spüren.
Diese Wirklichkeit ist weit entfernt vom Projekt „Entfernte Nähe“. Oder ist Kultur - wie auch hierzulande - nicht nur, aber doch fast nur für Oberschichtintellektuelle zugänglich?

Zum anderen fehlten klare politische Positionsbestimmungen.
Jedes Unrechtsregime ruft Widerstand hervor, auch als künstlerischen Ausdruck.
Sicher beinhaltet fast jeder Film, jedes Buch, jede Fotografie und jedes Bild der Ausstellung eine Kritik an der Politik der iranischen Regierung. Aber alles in allem fehlte eine Polarisierung. Letztendlich fehlt wohl das, was als politisch motivierte Kunst bezeichnet werden könnte. Oder wurde diese bewusst ausgespart?

Da viele der KünstlerInnen im Exil leben, liegt es nahe, dass ihnen ein Leben im Iran unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht möglich scheint. Einige der KünstlerInnen waren lange Jahre im Knast oder fielen der Zensur zum Opfer. Diese Tatsachen fanden zwar Erwähnung, wurden aber nicht zum Gegenstand von Diskussionen. Ähnlich war es auch mit den Objekten, den Installationen, Filmen und den literarischen Werken. Das Unbehagen gegenüber dem politischen System findet in allem seinen Ausdruck, ist aber nicht Thema als solches. Ist es nicht wichtig im Rahmen eines Projekts, das die Kultur eines Landes näher bringen möchte, zu politisieren - umso mehr, da es sich um einen Unrechtsstaat handelt? Ist alles andere nicht eine Verharmlosung? Ich hätte gerne mehr erfahren über die Zensur, über das künstlerische Leben mit der Angst im Nacken, im Knast zu landen. Shahrnush Parsipur hat ihren Roman „Tubor“ im Gefängnis geschrieben. Das einzige Buch von ihr, das auf deutsch existiert.
Oder ist Folter, Zensur, Gefängnis gar so selbstverständlich, dass es nicht mehr thematisiert werden muss? Muss es dann auch für das Publikum in Berlin selbstverständlich sein? Sind es die KünstlerInnen vielleicht müde, immer wieder darüber sprechen zu müssen, als würde ihr Leben nur als das Leben von Opfern Bestand haben?
Es ist wohl so, wie der exilierte Dissident Farjah Sarkohi es ausdrückt: “Die jungen Iraner, speziell die Frauen, versuchen einen friedlichen Weg einzuschlagen. Man will keine Gewalt mehr. Wir hatten genug, eine Revolution, einen achtjährigen Krieg gegen den Irak - die Menschen sind kriegsmüde.“ Auch Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi sieht das so: „Alle Reformen sollen friedlich in Gang gesetzt werden. Die Zeit des Hasses, der Gewalt und des Krieges ist vorbei, aber auch die der Repression.“
Im übrigen erfuhr die Bevölkerung im Iran von der Preisverleihung an die Iranerin Schirin Ebadi für ihren Kampf um Menschenrechte durch das ausländische Satellitenfernsehen.
Unter Khatamis Regierung gab es bereits 80 politische Morde, zumeist an Schriftstellern und Journalisten. Viele wurden entführt, später wurden ihre Leichen gefunden. Nach wie vor sind Menschenrechte im Iran ein Fremdwort. Die islamische Republik wurde jedes Jahr wegen Menschenrechtsverletzungen von der UNO verurteilt. Im Juli 1999 gab es massive Studentenproteste. Unter Missachtung des Demonstrationsverbots demonstrierten meist StudentInnen gegen die 20 Jahre währende Unterdrückung. Sieben Personen wurden bei der Demo in Teheran getötet.
Auch in anderen Städten gab es Demonstrationen und Festnahmen, insgesamt 1400. Eine Festnahme bedeutete soviel wie ein Todesurteil.
Nun ist Mohammad Khatami Präsident der islamischen Republik, der Kopf der angeblichen Reformbewegung, so wird es auch in deutschen Medien behauptet. Viele IranerInnen setzen nach wie vor auf ihn.
Dennoch werden Arbeitsstreiks weiterhin blutig niedergeschlagen, Oppositionelle weggesperrt oder sogar ermordet, auch Steinigungen an Frauen und Männern gibt es weiterhin. Möglicherweise sind Khatami auch die Hände gebunden, da die Macht der religiösen Führer über ihm steht. Bagher-e Zolghadar, der Stellvertreter des Oberkommandierenden der Revolutionswächter, einer Sonderpolizei des islamischen Regimes, sagte in einem Interview letztes Jahr: „Wir unterstützen, was unser Präsident Khatami über Reformen sagt, weil es dazu dient, den Westen zu täuschen. Alle anderen, die von Reformen reden, müssen hart bekämpft werden.“
Und der Westen lässt sich gerne täuschen, um die wichtigen Beziehungen nicht zu gefährden.
Das sei als Ergänzung nachgetragen.


Die Reise in den Iran geht nun zu Ende. Aber irgendwann gibt es eine andere Reise in ein anderes Land:
„Deine Chancen stehen gut. Dein Leben ist voller Ereignisse. So steht`s hier. Eine Frau hat ihre Augen immer auf deinem Weg. Aber du gehst auf eine weite Reise… Auch das ist hier zu lesen. Das Geld liegt für dich auf der Straße. Du musst dich nur bücken und es aufheben. Wenn du auf deinen Kopf gut aufpasst, wirst du es schaffen! Das ist deutlich hier abgezeichnet. Nicht, daß du denkst, ich habe mir das alles ausgedacht….“ (aus “Hüte Dich vor den Männern mein Sohn“, von Fahime Farsaie,1998)

Ende Teil IV.

w.p. - red / Mai 2004
Siehe auch Teil I, Teil II und Teil III

FWeitere Infos siehe auch:
http://www.hkw.de





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