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Ungarisches Kino

Tanz auf

dem Vulkan



Bewertung:    



Der Sommer der ungewöhnlichen Filme! Der sich sanft, aber stetig in Dramatischere steigernde Historienfilm Sunset gehört dazu, auf dessen schlingernde Erzählweise man sich als Zuschauer einlassen muss, um nicht nur intellektuell, sondern auch emotional etwas daraus zu ziehen. Wir kleben visuell und dramaturgisch als ZuschauerIn ganz eng an der Hauptfigur Iris Leiter (Juli Jakab), einer anmutigen jungen Frau, die 1913 nach in die zweite Hauptstadt des Habsburger Großreiches Österreich-Ungarn, nach Budapest, kommt. Wie ein Magnet zieht sie die renommierte Hutmanufaktur mit Geschäft an, die einst ihren Eltern gehörte und in dem diese bei einem Brand zu Tode kamen. Deshalb lässt sich Iris auch nicht einfach abweisen oder aus Budapest davonjagen – was beides versucht wird.

Der neue Besitzer Oskar Brill (Vlad Ivanov) erkennt schließlich, dass die beharrliche Iris ihm beim bevorstehenden Jubiläum des Hutsalons vielleicht sogar von Nutzen sein kann, und er stellt sie ein. Immerhin werden zu den Feierlichkeiten auch der Wiener Erzherzog mit seiner Frau erwartet. Iris bemerkt, dass Brill und andere ihr ausweichen, wenn die etwas zur Familiengeschichte erfahren möchte. Doch diese Schummeleien erscheint noch harmlos im Vergleich zu anderen Geheimnissen, die unter der steifen Oberfläche der K.u.K.-Klassengesellschaft brodeln, denn Iris wird Zeugin immer bedrohlicherer, aggressiverer Aktionen verschiedener rivalisierender Männerbünde.

Geschrieben und gedreht hat Sunset der ungarische Autorenfilmer László Nemes, dessen Holocaust-Drama Son of Saul (201) mit dem Oscar als „Bester fremdsprachigen Film“ ausgezeichnet wurde, vor allem in Deutschland aber außerhalb der Kritikerzirkel kaum beachtet wurde. Schon dort fokussierte sich die Kamera von Mátyás Erdély auf die Hauptperson, sodass die verengte Perspektive des Protagonisten auch die des Zuschauers wurde. Außerdem war die Umgebung nur in Unschärfen zu erkennen, um einerseits den angsterfüllten und gestressten Blick des Leichengräbers Saul zu symbolisieren, vor allem aber um zu vermeiden, dass das Massentöten von KZ-Inhaftierten deutlich zu sehen ist und als redundanter Akt trivialisiert werden könnte. Diese besondere Fokussierung durch eine stark subjektive Kameraführung und mangelnde Tiefenschärfe haben Nemes und Erdély auch für Sunset genutzt. So torkelt die Heldin halb naiv, halb verunsichert durch ein gesellschaftliches Panorama Ungarns kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, von dem der Zuschauer nur das sieht, was auch die Protagonistin sieht – und sich die Hintergründe des Gezeigten zusammenreimen muss.

Dazu der Regisseur und Ko-Autor László Nemes (weitere KO-Autoren sind Clara Royer und Matthieu Taponier): „Noch bevor ich mit meinem ersten Spielfilm Son of Saul begann, hatte ich die Idee, einen Film über eine Frau zu drehen, die allein und verloren in ihrer Welt ist. Einer Welt, die sie vergeblich zu verstehen versucht. Von bestimmter Literatur und der filmischen Tradition Mitteleuropas beeinflusst, zog es mich zu einer Protagonistin, die teilweise von einem Geheimnis umgeben ist und deren Handlungen die Zuschauer immer wieder bewerten und neu beurteilen müssen. […] Es lädt den Zuschauer ein, zusammen mit der Protagonistin einen Weg durch einen Irrgarten aus Fassaden und Ebenen zu finden. Von Anfang an habe ich mir vorgestellt, dass der Film den Zuschauer in ein persönliches Labyrinth stürzt, während er Iris auf der Suche nach ihrem Bruder begleitet und mit ihr herauszufinden versucht, was sich in der Welt verbirgt, die sie erkennen will. Hinter jedem Hinweis, den sie zu entdecken scheint, gibt es widersprüchliche Informationen. Iris ist ein Charakter, der zwischen Licht und Dunkelheit gefangen ist, zwischen Schönheit und Gefahr, unfähig mit den Grauzonen zurechtzukommen. Bis sie an einem Punkt im Film sogar eine Figur von unbekannter Dimension wird, so wie eine eigenwillige Johanna von Orléans Mitteleuropas.“

Zu der Methode, den Zuschauer zusammen mit der Hauptfigur durch ein Labyrinth an teils verwirrenden, teils verborgenen Geschehnissen zu schleusen, gehört auch, dass die Kamera immer in Bewegung ist (was man verkraften kann, denn es artet selten in hektisches Reißen aus) und dass in den Dialogen vieles angesprochen, aber nicht erläutert oder beantwortet wird. Das nervt dann schon auf die Dauer, denn zwei Stunden lang eine Unklarheit nach der anderen aufzutürmen, ist irgendwann kein wirkungsvoller, interaktiver Effekt mehr. Es schreckt dann bisweilen ab als dass es noch zum Mitdenken anregt. Da man ständig nah an der Hauptperson ist, entwickelt sich das mysteriöse Geschehen zwar organisch, aber auch hier gibt es Abnutzungseffekte: Die neugierige, gleichwohl naive junge Frau bei ihrem Gewusel begleiten zu müssen, strengt manchmal an – vor allem wenn die Zuschauer gefährliche Situationen wie eine Massenvergewaltigung antizipieren – Iris aber nicht.

Letztlich ist die Methode, die Nemes für Son of Saul angewandt hat, für die Geschichte, die er in Sunset erzählt, nicht ganz so überzeugend transformierbar. Denn die dunklen Geheimnisse und Komplotte, die sich abseits des Blicks der Protagonistin entwickeln, sind nicht derartig spektakulär und erschütternd wie es der Holocaust in Nemes Debütfilm war. Insgesamt bleibt die Überraschung am Schluss in den Grenzen des Erwartbaren. Dennoch überzeugt der Film mit seiner stringenten Gestaltung, die aus der Perspektive einer jungen Frau einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einer europäischen Großmacht wirft, die sich zum Zeitpunkt der Handlung in ihrer aufgeblähten Dekadenz und Reformunwilligkeit bereits schon lange als überholt erwies.



Juli Jakab in Sunset | (C) MFA+

Max-Peter Heyne - 17. Juni 2019
ID 11504
Weitere Infos siehe auch: https://www.mfa-film.de/kino/id/sunset/


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