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Japanisches Kino

Licht- und

Schattenspiele



Bewertung:    



Beim Filmfestival in Cannes sind schon viele bemerkenswerte Dinge geschehen, aber dass ein Schauspieler, der einen Toilettenputzer spielt, den Publikumspreis gewinnt, war im Frühjahr 2023 dann doch eine kleine Sensation. Der japanische Schauspielstar Kôji Yakusho, der im Jahr 1996 seinen internationalen Durchbruch mit Shall we dance? unter der Regie von Masayuki Suo feierte, spielt den nach buddhistischem Vorbild im Hier und Jetzt lebenden älteren Mann Hirayama derart sympathisch, dass es eine Freude ist, ihm zuzuschauen. So wird der über zwei Stunden dauernde und entschleunigte Spielfilm Perfect Days von Wim Wenders in keinem Moment langweilig, obwohl in Hirayamas Leben viel Gleichförmigkeit, Wiederholungen und „nur“ Alltägliches vorkommen, denen aber ein Zauber innewohnt.

Ausgangspunkt war ein Projekt der Stadt Tokio, die über ein Dutzend Toiletten in ihren Parks installieren ließ. Sie hatte große Architekten damit beauftragt, die wahre Toiletten-Tempel schufen, die sie mit modernster Technik ausstatteten, sodass kleine Meisterwerke entstanden sind. Man erinnerte sich an Wim Wenders' Affinität zu Japan und fragte ihn, ob er eine Dokumentation darüber machen wolle. Als er sich die sanitären Anlagen dann vor Ort ansah, entschieden er und und der innovative Drehbuchautor Takuma Takasaki sich, lieber einen Spielfilm zu drehen mit einem Toilettenmann, der die Einrichtungen täglich anfahren und reinigen muss. Dadurch konnten sie ausführlich in ihrem fantastischen Design und ihrer Funktion gezeigt werden. Dem in sich ruhenden Protagonisten kontrastierten sie mit einem Gegenpol, seinem jungen Kollegen Takashi (Tokio Emoto), der völlig ungefestigt und unzuverlässig ist. Er hat sich der dinglichen Welt verschrieben und will verständlicherweise eine Freundin haben. Dabei stehen seine Chancen als Toilettenmann und Geringverdiener allerdings sehr schlecht.

Hirayama lebt allein in einer bescheidenen Unterkunft, in der es nicht einmal eine Dusche gibt, er sucht nach der Arbeit immer ein Badehaus für die Körperreinigung auf. Seine Besitztümer sind sehr bescheiden, eine Handvoll alter Audiokassetten mit Musik aus den 1960er bis 1980er Jahren. Diese bilden auch den Soundtrack des Film mit Stücken von von Velvet Underground, Otis Redding, Patti Smith, The Kinks, Lou Reed und anderen bis hin zu japanischer Musik aus derselben Zeit. Er liest gerne und kauft regelmäßig gebrauchte Taschenbücher. Ein weiteres Hobby ist die analoge Fotografie. Mit einer kleinen Pocket-Kamera fotografiert er fast täglich die Krone seines Lieblingsbaums, unter dessen Schatten er immer seinen Mittagsimbiss zu sich nimmt. Er lebt weitgehend noch in einer analogen Welt und vielleicht ist das auch notwendig, wenn man im Hier und Jetzt präsent sein will, anstatt in der digitalen „Wirklichkeit“.

Eines Tages gerät Bewegung in die Alltagsroutine, als seine junge Nichte Niko (Arisa Nakano) von zu Hause weggelaufen ist und bei ihm Unterschlupf sucht. Es überrascht, dass der allein lebende Hirayama Familie hat, warum er sich von ihr zurückgezogen hat, erfahren wir nur in ganz kleinen Einzelheiten. Es wird klar, dass er in seinem Leben einen Tiefpunkt hatte, der ihn aber zu seiner jetzigen Lebenseinstellung veranlasst hat. Die Vergangenheit ist für ihn nicht mehr relevant, weil er mit ihr abgeschlossen hat. Wenn er frühmorgens aus dem Haus geht, lächelt er jedes Mal den neuen Tag an, egal bei welchem Wetter. Hirayama hat gelernt, seinen Seelenfrieden nicht von äußeren Dingen abhängig zu machen, und wenn dieser durch unvorhergesehene Ereignisse einmal aus dem Gleichgewicht gerät, pendelt er sich schnell wieder ein. Die Gesellschaft mag seine Arbeit als minderwertig betrachten, aber die Würde und Achtsamkeit, mit der er sie ausführt, erzählen eine ganz andere Geschichte. Und in Japan sind Badezimmer und Toiletten Teil der Kultur, Ausdruck der Reinlichkeit und auch des Gemeinwohls. Die Parktoiletten sind in einwandfreiem Zustand, nicht mit Fäkalien verschmutzt, und es ist nichts Ekeliges darin, ganz anders als z. B. bei deutschen Schultoiletten. In den Parks gibt es kaum Mülleimer, weil die Japaner ihren Müll mitnehmen. (Viele Zuschauer bei den Fußballweltmeisterschaften wundern sich, dass die japanischen Schlachtenbummler hinterher die Sitzreihen freiwillig von ihrem Müll befreien.)

Hirayama hat seltsame Träume von Licht- und Schattenspielen, die er auch im Wachzustand beobachtet, wenn er beim Lunch die Baumkronen bewundert. Er hat kistenweise ausgedruckte Fotos von eben jenem Lieblingsbaum. Innerfilmisch erschließt sich das nicht ganz. Es wird aber klar, dass Hirayama sich jeden Tag neu für das „Licht“ entscheidet, wenn er z.B. Setzlinge von Bäumen sammelt und sie in seiner Wohnung großzieht. Er mag wie ein Eremit leben, aber er ist den Menschen zugewandt, kümmert sich vorbildlich um seine Nichte, bis die von ihrer Mutter wieder abgeholt wird, und bewundert eine „Mama“ genannte Wirtin (Sayuri Ishikawa), bei der an seinen freien Tagen seine Mahlzeiten einnimmt. Da er selbstgenügsam ist und keine Erwartungshaltung mehr an andere hat, kann er in seiner Mitte und in der Anbindung an sein inneres Wesen verbleiben.

*

Perfect Days ist dem japanischen Regie-Meister Yasujirō Ozu (1903-1963) gewidmet, den Wenders sehr bewundert. Jenseits der Einflüsse von Hollywood hatte dieser einen eigenen Stil kreiert, der viele andere Filmemacher inspiriert hat. Danach befragt, was ihn am meisten an Ozu beeinflusst, antwortet Wenders:


„Vor allem das Gefühl, das alle seine Filme durchdringt: dass jedes Ding und jeder Mensch einmalig ist, dass jeder Moment nur einmal geschieht und dass die alltäglichen Geschichten die einzigen Geschichten von Dauer sind.“


Nun, der Toilettenmann wird nicht nur in Cannes in Erinnerung bleiben. Die Japaner haben Perfect Days in das Rennen um die Oscar-Nominierungen für den Auslands-Oscar geschickt. Sicher auch eine bewusste Wertschätzung für Wim Wenders. Diesem ist eine erhebende Kinoperle gelungen mit Tiefgang und Leichtigkeit zugleich. Der 1945 geborene Regisseur und Autor ist in diesem Herbst gleich mit zwei Filmen in den Kinos vertreten: der Dokumentation Anselm und jetzt mit dem Spielfilm Perfect Days. Das zeigt die Bandbreite von Wenders' Filmschaffen, und egal, ob es der berühmte Künstler Anselm Kiefer ist oder eine Reinigungskraft, er behandelt beide mit der selben Achtung und Würdigung, wie sein Vorbild Ozu es getan hätte. Mit Wim Wenders können wir dankbar sein, einen relativ unabhängigen Kunstschaffenden zu haben, der die gleiche Wertschätzung verdient, die er seinen Protagonisten zukommen lässt. Und die fast einhellig begeisterten Filmkritiken deuten darauf hin, dass das auch der Fall ist.



Hirayama (Kôji Yakusho) kümmert sich um seine Nichte Niko (Arisa Nakano) | © Master Mind Ltd.

Helga Fitzner - 21. Dezember 2023
ID 14534
Weitere Infos siehe auch: https://dcmstories.com/movie/perfect-days/


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