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DVD-Kritik

60 Jahre danach



Bildungsdünkel sind widerwärtig wie andere Dünkel auch. Aber sie gehören weitgehend der Vergangenheit an wie der zerstreute Professor oder der weltfremde Bücherwurm. Stolz auf Bildung ist heute seltener geworden als die Koketterie mit Unbildung. Es ist allerdings schwierig, ein halbwegs sinnvolles Gespräch über Theater zu führen mit Zeitgenossen, die keine Stücke von Shakespeare oder von Tschechow kennen. Es fehlt der gemeinsame Bezugsrahmen. Wie soll man sich mit jemandem verständigen oder auch streiten, der nicht weiß, wovon die Rede ist?

Das gilt nicht nur für die Literatur, die Musik oder eben das Theater, sondern auch für die vergleichsweise junge Filmkunst, der man das Attribut „bürgerlich“ nur mit Verrenkungen anheften kann. Zu den Meisterwerken der Filmgeschichte, ohne deren Kenntnis ein Reden über Film so widersinnig ist wie eine Diskussion über Social Media mit jemandem, der noch nie von Facebook oder Twitter gehört hat, zählt Außer Atem von Jean-Luc Godard. Anlässlich des 60. Geburtstags dieses Films hat ihn Studiocanal digital bearbeitet neu herausgebracht.

Was selbst unter Kennern der Filmgeschichte wenig bekannt ist: das Drehbuch stammt nicht von Godard, sondern von François Truffaut. Somit ist dieser Film ein Monument für gleich zwei zentrale Figuren der so genannten Nouvelle Vague, die beide von der Filmkritik zur Regie, von der Theorie zur Praxis gefunden haben. Mit Jean-Pierre Belmondo hat Außer Atem zudem einen neuen Typus geprägt. Ohne ihn gäbe es ebenso wenig einen Tarantino wie einen Jarmusch. Heute mag ein Belmondo nicht auffallen. Vor sechzig Jahren war dieses zerknautschte Gesicht mit der Boxernase und der Zigarette im Mund Provokation und Faszination zugleich. Die Geste des über die Lippen streichenden Daumens, die ihrerseits Humphrey Bogart abgeguckt ist, wurde damals von den Fans kopiert, Belmondo wurde zum ersten Popstar des Films und zum Idol. Er wurde in aller Welt von Jugendlichen imitiert wie eine Generation zuvor John Wayne.

Vieles, was Außer Atem an Innovationen enthielt und was vor 60 Jahren unerhört erschien, gehört heute zum filmischen Alltag. Die Jump Cuts irritierten das Publikum seinerzeit so sehr, dass man sie für einen Defekt hielt. Godard spottete über alle Regeln, die der Film angeblich zu befolgen habe, und diese Haltung hat er sich bis heute bewahrt. Manche werfen Godard Kopflastigkeit vor. Seine frühen Filme sind weniger intellektuell als anarchisch. Dabei spielten auch neue Erfindungen und Technologien, namentlich die leichten Handkameras und lichtempfindliches Filmmaterial, eine entscheidende Rolle. Außer Atem hat durchaus eine nachvollziehbare Story, die nur so von Zitaten strotzt und somit bei allem Neuerertum an die damals, zur Halbzeit also, sechzigjährige Geschichte der Filmkunst anknüpft. Sie nimmt Elemente des Kriminalfilms auf, hypnotisiert mit einer unorthodoxen und unsentimentalen Liebesgeschichte zwischen Belmondo und der so wohltuend unamerikanisch amerikanischen Jean Seberg. Aber die Sequenzen und Dialoge passen nicht fugenlos zu einander wie im Mainstream-Film, sie bleiben offen, fragmentarisch, spontan.

Außer Atem ist ein Film über das Paris vor 1968, ein Zeitbild und das Bild einer Stadt, die als Kulisse und als Akteur mitspielt wie New York später bei Scorsese oder Berlin bei Wim Wenders. Zwei Jahre nach Louis Malles Fahrstuhl zum Schafott und ein Jahr nach Otto Preminges Anatomie eines Mordes, den ersten Filmen, die Jazz als Filmmusik eingesetzt haben, arbeitet auch Godard mit Jazz (von Martial Solal).

Außer Atem hat einen der schönsten und verzweifeltsten Schlüsse der Filmgeschichte. Er erinnert zugleich an die amerikanischen Stars James Cagney oder Humphrey Bogart und an den französischen Existentialismus. Und er ist, in seinem Zusammenspiel von Bild und Ton, ein Musterbeispiel dafür, was der Tonfilm und nur der Tonfilm kann. Wer wollte über Kino reden, der das nicht kennt? Und welches Streaming von noch so genialen Theateraufführungen könnte damit konkurrieren?

Leute, nützt die Coronapause. Seht euch Außer Atem an. Zum ersten oder zum zehnten Mal.
Thomas Rothschild – 6. November 2020
ID 12583
Arthaus-Link zu Außer Atem


Post an Dr. Thomas Rothschild

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