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In memoriam

Der

Ausnahme-

Filmemacher

Jean-Luc Godard (1930-2022)


Jean-Luc Godard at Berkeley, 1968 | (C) Gary Stevens; Bildquelle: Wikipedia


In seinem ersten abendfüllenden Film Außer Atem irritierte Jean-Luc Godard das zeitgenössische Publikum mit Jump Cuts. Die zunehmende Zerstörung der Kontinuität ist das vielleicht auffälligste Merkmal von Godards Filmkunst. Sie erschwert die Rezeption und bewirkt zugleich, dass sich Godards Filme zum üblichen narrativen Film verhalten wie Finnegans Wake zu Anna Karenina. Der Ablauf folgt nicht der vertrauten zeitlichen und kausalen Logik, die Bilder decken sich nur gelegentlich mit dem Ton. Die Verbindungen sind eher assoziativ als logisch und daher von einer objektivierbaren Erfahrungswirklichkeit weiter entfernt. Die Subjektivität von Godards Filmen wird noch ergänzt von unzähligen Bildungspartikeln, die man nur verstehen und entschlüsseln kann, wenn man das Repertoire mit dem Filmemacher teilt. Darf man sich, um ein Beispiel von vielen zu nennen, darauf verlassen, dass der Name Willi Münzenberg heute bekannt ist?

Es ist einer der großen Momente, in denen die Verweigerung einer Antwort mehr sagt als jedes Wort. Zuvor die Frage: „Werden die kleinen Digitalkameras den Kinofilm retten?“ Jean-Luc Godard, an den sie gerichtet ist, schaut verständnislos und schweigt. So dokumentiert in Godards Film Our Music.

In dieser Szene treffen zwei Einstellungen aufeinander. Vielleicht auch zwei Generationen. Godard versteht die Frage offenbar nicht, mit der er da konfrontiert wurde, will sie nicht verstehen. Aus ihr spricht ein technologisches, ein technizistisches Weltverständnis, das der künstlerischen Auffassung Godards vom Film diametral entgegengesetzt ist.

Aber gestehen wir es ein: Die Frage befindet sich im Gegensatz zu Godards Reaktion auf der Höhe der Zeit. In den vergangenen Jahren haben die Künste – und keineswegs nur der Film – zunehmend auf technische Erfindungen gewettet, nicht auf ästhetische Innovation. Ob in der bildenden Kunst oder auf dem Theater, in der Musik oder selbst in manchen Bereichen der Literatur: man erhofft sich das Heil von Computer und Videokamera, von Apparaten und Elektronik, nicht von neuen Formen und Stoffen. Was Alfred Hrdlicka einst, wohl polemisch, Mondrian und seinen Nachfolgern vorwarf, dass sie den Menschen aus der Kunst verbannt hätten, das gilt heute modifiziert und verstärkt angesichts einer erkennbaren Verdrängung der Auseinandersetzung mit dem Menschen durch inhaltsleere Technologie.

Nun soll ja gar nicht geleugnet werden, dass technischer Fortschritt den Künsten von Nutzen sein kann und in deren Geschichte immer wieder gewesen ist. Auch Jean-Luc Godard hätte seinen ersten Film ohne die damals neuen leichteren Handkameras so nicht drehen können. Aber in die Filmgeschichte und in die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist Außer Atem eingegangen wegen seiner revolutionären Bildsprache. Nicht die Handkamera macht eins der Schlüsselwerke der „Nouvelle Vague“ aus, sondern die geniale Weise, in der Godard mit ihr umgeht, wie er das gefilmte Material montiert, wie er Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg präsentiert, wie er sich mit sechzig Jahren Filmgeschichte auseinandersetzt.

Dem gegenüber ist die Hoffnung, die kleinen Digitalkameras könnten den Kinofilm retten, dem gegenüber sind all die Videotricks auf dem Theater, all die Computeranimationen in sämtlichen Lebensbereichen lediglich Ausdruck von Ideenarmut, einer bewusstlosen Hörigkeit gegenüber dem technisch Machbaren, die im künstlerischen Bereich die Mechanismen einer Wirtschaft reproduziert, in welcher der Mensch durch Maschinen und Elektronik ersetzt wird, weil das für einige Wenige profitabel ist.

In allen Künsten gibt es unzählige Talente, aber nur wenige Genies. Für den Film ist es Jean-Luc Godard. Seine viereinhalbstündige(n) Histoire(s) du cinéma/Geschichte(n) des Kinos wurde(n) nicht gedreht, sondern aus found footage, aus Archivmaterial montiert. Dass der Film in erster Linie die Kunst der Montage ist, wurde noch nie so radikal bewiesen wie hier. Fragmente, bewegte und starre Bilder, geschriebene und gesprochene Sprachschnipsel, Musikbruchstücke, aneinander montiert und übereinander collagiert, lassen dem Zuschauer Raum für eigene Assoziationen. Das hat auch den Charakter eines Quiz: Wer die Herkunft der einzelnen Szenenausschnitte und der genannten Titel kennt und identifizieren kann, hat das größere Vergnügen. Es ist ein intellektuelles Vergnügen, denn die Kombinationen sind nichts weniger als willkürlich. Sie binden die Reflexionen über Wesen und Geschichte des Kinos ein in die Zeitgeschichte, in die Geschichte des Jahrhunderts, die der Film nach Godard benötigt hat, um sich durchzusetzen und wieder zu verschwinden. Wäre das Publikum durch massive Beeinflussung nicht konditioniert auf den narrativen Film, auf die nacherzählbare Story, die in den üblichen Kritiken die Auseinandersetzung mit jenen Mitteln ersetzt, die Film erst in seiner Eigenart konstituieren und von anderen Künsten unterscheiden – es müsste Histoire(s) du cinéma/Geschichte(n) des Kino als das filmische Pendant zu Ulysses, zu den Stücken Becketts und zu den Kompositionen Schönbergs begreifen. Dabei ist dieses Meisterwerk, wenn man sich darauf einlässt, durchaus kulinarisch, faszinierend in seiner üppigen Fülle, anregend, aber niemals bevormundend in den gedanklichen Ansätzen.

Wer das Kino liebt, wer nicht nur ein gelegentlicher Kinogänger ist, sondern ein Fan, erlebt hier in höchster Konzentration die kaum erklärbare Magie, die von einzelnen Filmbildern und -szenen ausgeht, von Schauspielern, ihren Gesichtern, von Arrangements, von Bewegungsabläufen, von Bildkompositionen, beim Tonfilm auch von Dialogen, Sprechweisen, Geräuschen, Musikeinsätzen. Selten wurde so überzeugend vorgeführt, dass man analysieren kann, was man liebt, und lieben kann, worüber man sich Rechenschaft gibt. Die blöde Rede vom Gegensatz zwischen Kopf und Bauch, die schon in ihrer Metaphorik lächerlich ist, wird hier ein für alle Mal widerlegt. In jeder Einstellung überträgt sich Godards leidenschaftliche Liebe zu seinem Gegenstand, aber niemals überlässt er sich der puren Schwärmerei. Er will wissen, wovon er redet.

Das Gefühl der Überforderung, das dieser Film bei vielen Betrachtern hervorrufen dürfte, verdankt sich weniger der Fülle der Bilder als einer Vorliebe für Paradoxe und metaphorische Rede, die Godard mit französischen Essayisten und Forschern teilt. Das Verrätselte ist Methode. Man kann es auch Poesie nennen. Wer rationaler Argumentation zuneigt, mag das gelegentlich prätentiös finden und zur Vermutung gelangen, dass nicht hinter jeder schillernden Formulierung tatsächlich eine tiefe Erkenntnis verborgen liegt. Was aber die Überforderung angeht, so ist sie in einer Welt der ständigen geistigen Unterforderung – und Godard benennt ihren Ort: das Fernsehen – allemal zu begrüßen.

*

Gestern ist Jean-Luc Godard gestorben. Die Welt trauert um die englische Königin. Der dritte Karl wird ihren monarchistischen Job fortsetzen. Wer kann Jean-Luc Godard ersetzen?
Thomas Rothschild – 14. September 2022
ID 13804

Post an Dr. Thomas Rothschild

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