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Interview

ERAN RIKLIS

„Das haben wir fast vergessen, ´Mentsh` zu sein“


(C) Eran Riklis / Pathé Distribution


Welche Szene aus dem Film [Aus nächster Distanz] mögen Sie am liebsten?

Eran Riklis
(lacht): Sie fragen nach einer Szene. Ich liebe den ganzen Film. Für mich ist das der intimste und interessanteste meiner bisherigen Filme. - Meine liebste Szene ist die, in der beide Frauen ihre Geheimnisse preisgeben. Vielleicht trauen sie einander nicht völlig, aber in diesem Moment entsteht etwas.


Würden sich im richtigen Leben eine Jüdin und eine Muslima einander anvertrauen?

E. R.:
Weder ein Jude noch ein Muslim würde bei uns irgendjemandem trauen, wenn er gescheit ist. Die Figur der jüdischen Frau Naomi hat ein Trauma, weil sie ihren Mann bei einem Einsatz verloren hat, sie ist innerlich eine sehr zerbrechliche Person, obwohl sie nach außen hin so tough wirkt. Aber sie bekommt ihr Selbstvertrauen allmählich zurück und auch wieder Zugang zu ihren Gefühlen, die sie nach dem Tod ihres Mannes eingeschlossen hatte. Sie ist noch total benommen, aber dann trifft sie auf die Muslima Mona, über die sie sich am Anfang ärgert. Sie streiten sich, weil Mona gegen die Sicherheitsauflagen verstößt und die Wohnung verlässt. Aber irgendwie mögen die beiden auch die Gefahr. Beide Frauen leben in einer männlichen, chauvinistischen Welt, die Geheimdienste bestehen zum größten Teil aus Männern.



Mossad-Agentin Naomi (Neta Riskin) ist sauer auf ihren Schützling Mona (Golshifteh Farahani) | © NFP marketing & distribution, Foto: Gordon Timpen


Jeder Israeli, auch die Frauen, ist Soldat, heißt es doch.

E. R.:
Das stimmt. Aber es ist ein sehr kompliziertes System. Als ich jung war, kam gar kein anderer Gedanke auf, als dass Männer und Frauen zur Armee zu gehen hatten. Da hatte man auch als Pazifist Wehrdienst zu leisten. Heute ist das anders. Das Verhältnis von Armee, der Nation und den Menschen hat sich geändert. Die Gesamtsituation ist viel komplexer und komplizierter geworden. Das umfassende Schema von Sicherheit in der Welt hat sich verschärft. In Israel ist das genauso. In der westlichen Welt herrscht ein Gefühl von Bedrohung, und wir haben hier die Gaza-Geschichte, die wir nicht ignorieren können.


Es heißt, die Lebenssituation in Gaza ist so dramatisch, dass es zu einem Pulverfass geworden ist und irgendwann explodieren muss.

E. R.:
In Gaza leben zu viele Menschen auf zu engem Raum. Und sie haben nichts, rein gar nichts.


Es soll keine ausreichende Wasserversorgung geben oder Elektrizität, kein funktionierendes Abwasserwesen und eine völlig unzureichende Versorgungslage, die durch die Zerstörung der Versorgungstunnel auch noch verschärft wurde.

E. R.:
Ja, und das kann so nicht weitergehen.


Israel beruft sich immer wieder auf sein Sicherheitsbedürfnis, das durchaus verständlich ist. Der englische Titel von Aus nächster Distanz heißt Shelter, also Schutz.

E. R.:
Manchmal können Filmtitel nicht genommen werden, weil sie schon belegt sind. Meine erste Wahl Safe House war schon belegt. Mein bevorzugter Titel auf englisch wäre Refuge gewesen, also Zuflucht, aber davon riet man mir ab, weil es zu leicht mit „Refugee“ also Flüchtling und der ganzen Flüchtlingsproblematik verwechselt werden könnte. Das hätte in die Irre führen können.


Die israelische Regierung tut ja sehr viel für die innere Sicherheit, aber fühlen sich die Israelis auch sicher?

E. R.:
Die Israelis haben die unsicheren Zeiten noch nicht verwunden, in denen es so viele Selbstmordattentate auf Busse, Restaurants und öffentliche Plätze gab. Das hat sich tief in ihre Psyche eingegraben. Daraus hat sich aber eine Art Zynismus entwickelt. Wenn also irgendwelche Missiles auf israelisches Gebiet fallen, dann ist das halt so. Das war früher anders. Ich erinnere mich daran, dass im Jahr 1991 mein damals fünfjähriger Sohn mit dem Tragen von Gasmasken vertraut gemacht wurde. Heute hat sich da eher eine Abgestumpftheit breit gemacht.


Sind denn die Differenzen zwischen Arabern und Juden in Israel so unüberbrückbar, wie sie z. B. in den Nachrichten kolportiert werden?

E. R.:
Nein, es gibt auch so etwas wie normale Beziehungen mit Respekt und gemeinsamen Geschäften. Auch kulturell findet ein Austausch statt. Aber die Palästinenser, Westbank und Gaza sind eine ganz andere Geschichte. Denn die werden als Feinde porträtiert.


Die Frauen im Film nähern sich ja trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Religion an. Ist Solidarität zwischen den Menschen ein Rezept für künftigen Frieden?

E. R.:
Nein, es ist leider nicht so einfach. Ich sehe den Dreh- und Angelpunkt in der Bildung, und damit öffnet sich auch der Zugang zu Wissen und Erkenntnissen in einem sehr ausgedehnten Spektrum. Im Yiddischen gibt es den Ausdruck „Mentsh“, der einen guten, aufrechten Menschen bezeichnet. Das haben wir fast vergessen, Mentsh zu sein. Die Gewalt, die uns umgibt, ist Teil unseres Lebens geworden, und wir leben damit. 50 weitere Opfer in Damaskus, so und so viel Menschen sind da und dort gestorben: Irgendwie ist die Kapazität für Anteilnahme bei so vielen schlechten Nachrichten erschöpft. Wir fahren mit unserem Leben fort. Woher soll denn auch die Energie kommen, alle zu beschützen? Terror ist zu einem weltweiten Phänomen geworden und bezieht sich nicht nur auf Israel.


Vor ungefähr acht Jahren gab es einen Riesenskandal, als eine kleine Wanderausstellung über die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser anlässlich der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948, in Deutschland gezeigt werden sollte. Viele deutsche Israelfreunde protestierten vehement dagegen, weil wir das als Deutsche nicht zulassen dürften. Heute stößt die Militär- und Siedlungspolitik Israels so sehr auf Ablehnung, dass sich Israel international fast isoliert hat. Dabei ist das Land auf Freunde doch sehr stark angewiesen.

E. R.:
Das stimmt leider. Mein Land befindet sich in einem ständigen Kampf, und viele Israelis sind verstört über die Richtung, die die Politik in den letzten Jahren eingeschlagen hat. Auch wir Kunstschaffende müssen uns immer wieder rechtfertigen, weil wir schließlich unser Land repräsentieren. Ich sage das nicht nur für mich, sondern für eine ganze Menge Leute: Wir Kunstschaffende sind die besten Botschafter für Israel, aber wir werden als Gegner des Staates eingestuft.


Wie bei dem Film Foxtrot von Samuel Maoz?

E. R.:
Ja, das ist ein gutes Beispiel. Unsere Filme zeigen Persönliches aber auch Dinge, die über das Persönliche hinausgehen. Ich glaube, das ist es auch, was Leute wollen, einen ehrlichen Umgang mit den Begebenheiten. Schon als ich Lemon Tree (2008) herausbrachte, kritisierte man mich, weil ich Mitgefühl mit einer palästinischen Witwe zeigte, deren Zitronenhain von einer Mauer umgeben wird und die sich gerichtlich dagegen zur Wehr setzen will. Das sei politisch, wurde mir vorgeworfen, doch ich sagte: "Das ist nicht politisch, es geht um Bäume."


So ganz unpolitisch sind Ihre Filme aber nicht. Sie zeigen die Auswirkungen, die politische Entscheidungen auf die Menschen und ihren Alltag haben.

E. R.
(grinst schelmisch).


Wir haben eine Rubrik „Europäisches Judentum im Film“, in der wir Filme vorstellen, die Strategien zur Konfliktlösung zeigen. Weil Aus nächster Distanz ein Thriller ist, darf ich das Ende nicht verraten, das Ihre Lösungsmöglichkeit erläutern würde. Wie könnte man das allgemein formulieren?

E. R.:
Es gab eine Diskussion am Anfang über das, was ich mit dem Film bezwecke. Soll das jetzt ein Thriller werden, geht es um die Frauen, um Beziehungen. Ich sagte: "Das ist richtig." Es ist kein Thriller wie Mission Impossible, aber ich benutze einige Aspekte dieses Genres. Es geht auch um Verschwörung und dass niemand die Wahrheit sagt. Insbesondere die Männer lügen ständig. Es gibt im übrigen einige Leute, die das Ende nicht verstehen.



Mossad-Agentin Naomi (Neta Riskin) und die libanesische Informantin Mona (Golshifteh Farahani) verstehen sich immer besser | © NFP marketing & distribution, Foto: Gordon Timpen


Weil sie die Frauen unterschätzen?

E. R.:
Ja, aber auch, weil ich nicht vorgebe, alle Antworten zu kennen.


Trotzdem werden Sie kritisiert?

E. R.:
Als wir Die syrische Braut drehten, gab es eine Szene an der Grenze. Ich wollte zwei israelische Panzer im Bild haben, um die Atmosphäre am Grenzposten zu zeigen. Das wurde als anti-israelisch angesehen. Die damalige Armeesprecherin für diese Fragen war Miriam Regev, die heutige Kulturministerin, die den Film Foxtrot so sehr kritisiert hat. Ich werde das nie vergessen. Es war 2003, da hatte ich sie am Telefon. Und ich fragte sie: "Frau Regev, worin liegt das Problem mit den Panzern?" Sie hielt das für anti-israelisch. Ich sagte ihr, dass ich Soldat während des Jom-Kippur-Krieges (1973) war und für das Land gekämpft hätte und nun würde sie mir derartige Unterstellungen machen. Sie hat einfach aufgelegt, und damit war die Sache erledigt. Der Witz war der, als wir die Szene drehten, flogen zufällig zwei Helikopter ins Bild. Die sind jetzt ganz ohne Debatte mit drin. - Ich sehe uns aber als die guten Kräfte im Land. Wir sind doch eine Demokratie und da muss es Redefreiheit geben.


Geht es in dem Film darum, die Unterschiede zu überwinden?

E. R.:
In dem Film geht es um Hoffnung, Respekt, Bildung und ganz altmodisch um Liebe. Wenn man eine Mischung von diesen hat, kann etwas Gutes dabei herauskommen. Die beiden Frauen haben einen Bund geschlossen, und der wird halten, egal ob sie mal Feinde waren. Wenn so etwas geschieht, dann setzen sie den ganzen Lügen, Verschwörungen und Manipulationen etwas entgegen: Und dann ist alles möglich.


Vielen Dank.


[Das Gespräch fand am 8. August 2018 in Köln statt.]

Interviewerin: Helga Fitzner - 11. August 2018
ID 10842
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