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Festival of Romani Film vol. IV / 2020

AKE DIKHEA?

Die Zukunft ist intersektional



„Ake dikhea?“, das ist Romanes für „Siehst du?“. Es lässt an „Was guckst du?“ denken, Kaya Yanars „Ethno-Comedy“ der frühen Nullerjahre. Mit dem Comedy-Genre hat das Roma-Filmfestival allerdings nicht viel zu tun: Die Einladung zum Hingucken ist keine provokative, sondern eine herzliche. Wobei die Filme oft alles andere als leichte Kost sind - auch weil das nun bereits zum vierten Mal stattfindende Festival dieses Jahr den Themenschwerpunkt Intersektionalität hat. Der von Kimberlé Cranshaw geprägte Begriff bezeichnet das Phänomen, am Schnittpunkt verschiedener Diskriminierungserfahrungen zu stehen, z.B. als Schwarze, von Rassismus betroffene Person, die als Frau bzw. als weiblich gelesener Mensch gleichzeitig von Misogynie betroffen ist.

Längst überfällig, möchte man sagen, ist daher der filmische Blick auf die komplexen Lebensrealitäten von Rom*nja und Sinti*ze, die potenziell Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind. In 17 Filmen zeigte das Roma-Filmfestival vom 19. bis zum 23. November - coronabedingt nur online - was es bedeuten kann, zu mehreren marginalisierten Kollektiven zu gehören. Dass fast alle der zahlreich vertretenen Kurzfilme und auch die abendfüllenden Filme dokumentarische Beiträge sind, ist dabei angesichts des Themas nachvollziehbar.

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Beeindruckend ist die große Anzahl der verschiedenen Herkunftsländer der Filme, aber auch deren Themenvielfalt. England ist gleich mit drei Beiträgen vertreten: Memories of Appleby Fair gibt einen Einblick in das größte Treffen britischer „gypsies and travellers“, der jährlich stattfindenden Pferdemesse in Appleby-in-Westmorland. Traveller Pride zeigt Bilder von der allerersten Teilnahme einer queeren Rom*nja-Gruppe bei der London Pride im Jahr 2019.

Weibliche und/oder feministische Perspektiven auf die Herausforderungen des Lebens als Frau innerhalb der Rom*nja-Community, und außerhalb als potenziell mehrfach diskriminierter Mensch, zeigt neben My Gipsy Road und Prodana auch die Doku Roza’s Song. Regisseurin Lowri Rees begleitet die Sängerin Roza bei ihrem Versuch, als erste norwegische Rom*nja ihre eigene Platte herauszubringen, und zeichnet zugleich ein ungeschminktes Bild von der Rom*nja-Community in einer norwegischen Stadt im Spannungsfeld zwischen Kirche, Gewalt und dem Kampf um Sichtbarkeit und Chancengleichheit.

Ethnische Minderheiten spielen in Zakarpattia und Unerhört Jenisch eine besondere Rolle, während Tcha Leben und Karriere des Violinvirtuosen Tcha Limberger in den Fokus nimmt. Der belgische Sinto spezialisierte sich schon in jungen Jahren auf die ungarische Nóta-Musik. Aufgrund seiner angeborenen Blindheit hat er eine ganz eigene Perspektive auf seine Kunst und das „Musikbusiness“ – und als musikalisches und sprachliches Wunderkind verblüfft er (nicht nur) mit seinem fließenden Ungarisch die Kollegen auf den Konzertbühnen Budapests.

Mit Lety und The Deathless Woman sind auch Filme zum Themenkomplex Porajmos vertreten, d.h. zum Völkermord an den europäischen Rom*nja während der NS-Zeit. Der Dokumentarfilm Die Gegenwart der Vergangenheit, der beim diesjährigen Schul-Screening vorgeführt wurde, stellt die stets hochaktuelle Frage: „Welchen Platz haben Minderheiten in den nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen?“

Letter of Forgiveness gibt berührende Einblicke in das Leben von Rom*nja im Sklavendienst rumänischer Herr*innen im 19. Jahrhundert: ein unbekanntes Kapitel, mit dem sich eine nähere Auseinandersetzung lohnt. Der Kurzfilm hinterlässt einen bleibenden Eindruck mit seiner klaren, nüchternen Dramaturgie und den oft skizzenhaften Dialogen, die so ganz im Gegensatz zu den opulenten Kostümen und dem sorgfältig erarbeiteten Set-Design stehen. Hauptdarstellerin Alina Şerban, die zugleich die Regisseurin und Drehbuchautorin des Films ist, bringt die Zerrissenheit ihrer Figur mit einer emotionalen Tiefe auf die Leinwand, dass sie die anderen - guten! - Darsteller ein wenig blass aussehen lässt. Da freut es zu erfahren, dass auf Grundlage dieses kurzen Streifens noch ein Langspielfilm entstehen soll.

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Um die Schnittstelle zwischen Queerness und Rom*nja-Sein geht es gleich in mehreren Filmen, die uns die Augen für einen schmerzhaften „gemeinsamen Nenner“ beider Identitäten öffnen: sehen sich sowohl queere Menschen als auch Rom*nja oft gezwungen, ihre Identität geheim zu halten und im Schatten zu leben – aus Angst vor Ächtung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt.

Am eindrucksvollsten und berührendsten macht das im Rahmen des Festivals das Biopic Lindy. The Return of Little Light. Als Zuschauer*in erlebt man ihn gleich zu Beginn der Doku in seinem Element: auf der (Variété-) Bühne, wo er singt und schauspielert. Man merkt, die performativen Künste haben für ihn keine wirklichen Grenzen, und genauso fließend scheinen für ihn die Grenzen zwischen den Geschlechtern zu sein, zumindest was die „gender performance“ angeht. Ist Larssons queere Identität schon in den ersten Szenen sichtbar bzw. erahnbar, erfahren wir erst bei den Aufnahmen in seiner Heimat Lessebo (Småland) von seiner Rom*nja-Familie, die bereits seit vielen Generationen in Schweden lebt.



Lindy. The Return of Little Light | Photo: Bill Watts (C) Swedish Film Institute


Die Kamera schwelgt in Panoramabildern von den Wäldern und schneebedeckten Dörfern einer idyllischen schwedischen Landschaft – nur bleibt von dieser Idylle nicht viel übrig, wenn Larsson im Interview von seinen traumatischen Ausgrenzungserfahrungen als Rom-Kind erzählt. Von seiner Mutter bekam er zwar vorgelebt, stolz auf seine Identität zu sein, doch es sollten noch viele Jahrzehnte vergehen, bis Larsson realisiert, dass er damals für sich hätte einstehen sollen. Und dass er heute zu allem, was ihn ausmacht, stehen darf.

Als die in Berlin lebende Theaterregisseurin Yael Ronen bei ihm anfragt, ob er in ihrem Stück Roma Army mitwirken will, zögert Larsson. Weil er in der Performance genau das zu tun aufgefordert ist, was er bisher vermieden hat: Offen über seine Identität als Rom zu sprechen. Der emotionale Impact, den diese Arbeit auf ihn hat, ist enorm; nicht zuletzt, weil er sich dafür entscheidet, in der Aufführung schmerzhafte Familiengeschichten vor Hunderten von Menschen zu erzählen. Weil das Bekenntnis zur Rom-Identität für ihn zu einem zweiten Coming Out wird. Ein anstrengendes Unterfangen, aber mitzuerleben, wie es Larsson gelingt, Scham in Stolz zu verwandeln – und wie er nach der Premiere am Gorki seinen Ehemann umarmt – das geht nahe.

„Wenn ich in meinem Element bin, kann mich keiner besiegen“, heißt es an einer Stelle in diesem kleinen Juwel von einem Film, der völlig zu Recht von der Jury als Bester Film des Festivals ausgezeichnet wurde und obendrein den Audience Choice Award erhielt.

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Fazit: Zwar mögen nicht alle Beiträge gleichermaßen „intersektional“ sein, oder geeignet, Menschen ohne Berührungspunkte mit der Rom*nja-Kultur und mit anderen Minderheiten an deren Lebenswelten und Alltagsprobleme heranzuführen. Chacho zum Beispiel hat einen schwulen Protagonisten, dessen Rom-Identität im Film nicht extra thematisiert wird. Zugleich macht ihn sein gewalttätiges, frauenfeindliches Verhalten zum Antipathie-Träger. Doch es ist auch wichtig, diese Seite zu zeigen, die Rom*nja weder romantisch verklärt noch ausschließlich als Opfer zeigt. Wer beschämt und unterdrückt wird, übt nicht selten Gewalt gegen andere aus, die noch schwächer sind als er. In einem unterdrückenden System, das auf einer konstruierten männlichen, weißen und cis- und heteronormativen Vorherrschaft beruht, sind am Ende alle Verlierer*innen.

So schade es auch ist, dass dieses Jahr niemand in den Genuss kam, sich die Filme direkt im Berlin Kino Movimiento anzuschauen. Durch die Online-Screenings dürfte AKE DIKHEA? ein breiteres Publikum erreicht und Zuschauer*innen von Emden bis Regensburg hinzugewonnen haben. Genau das ist dem von RomaTrial e.V. veranstalteten Festival für die Zukunft zu wünschen: Mehr Aufmerksamkeit, ein noch größeres Publikum.

Nicht zuletzt lässt die rein weiblich besetzte Podiumsdiskussion zum Thema Intersektionalität in Film und Fernsehen darauf hoffen, dass in den nächsten Jahren mehr nicht-männliche Filmemacher*innen ein Podium bekommen sowie finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung erhalten, um weiter gute Filme von und über Rom*nja zu produzieren. Und auf diese Weise zu ermöglichen, dass mit alten Klischees endlich ein für alle Mal aufgeräumt wird und gefährlichen Stereotypen realistische Bilder entgegengesetzt werden können. Wie AKE DIKHEA? auch dieses Jahr wieder gezeigt hat: Die Lebenskontexte von Rom*nja sind genauso vielfältig wie die von „Gadje“ [= Romanes für Nicht-Rom*nja].
Jo Ojan - 6. Dezember 2020
ID 12639
Weitere Infos siehe auch: http://roma-filmfestival.com


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