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EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM

Die schwierige

Rückkehr zum

wahren Selbst



Bewertung:    



Prolog

Noch nie hatte ein Buch kollektive Ansichten derart auf den Kopf gestellt und bei vielen Betroffenen der Nachkriegsgenerationen für ein regelrechtes Aufatmen gesorgt. Als die Psychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller (1923-2010) im Jahr 1979 das Sachbuch Das Drama des begabten Kindes veröffentlichte, war praktisch über Nacht die Unantastbarkeit der Eltern, insbesondere der Mütter, in Frage gestellt, ohne diesen jedoch einen Vorwurf zu machen. Alice Miller untersuchte Kindheitstraumata im Zusammenhang mit der transgenerationalen Weitergabe solcher Traumatisierungen durch die Eltern, die selbst traumatisiert waren und das unbewusst auf ihre Kinder übertrugen. Alice Miller wurde für ihre Erkenntnisse und deren verständliche Vermittlung gefeiert und ist bis heute eine Kultfigur.

Im idealtypischen Verlauf einer frühen Kindheit sind die Eltern in der Lage die narzisstischen Bedürfnisse ihres Kindes zu tolerieren. Können alle Gefühle, darunter auch Wut, Frustration, Ohnmacht und Triebhaftes in dieser frühen Phase angstfrei ausgelebt werden, wird sich das Kind zu einem gesunden sozialen Wesen entwickeln können. Oft haben die Kinder in ihrer völligen Abhängigkeit von ihren Eltern aber deren Idealvorstellungen zu entsprechen, die durch „Erziehung“ erreicht werden sollen, die in einigen Fällen mit manipulierenden, mitunter gewalttätigen Mitteln durchgesetzt wird. Das kleine Kind hat in seiner Machtlosigkeit keine Wahl, als seine unerwünschten Gefühle abzuspalten und ein Selbst zu entwickeln, das den Bedürfnissen der Eltern entspricht und nicht sein eigenes und wahres Selbst widerspiegelt. Da das ursprüngliche Trauma aber in der Generation der Eltern (oder noch früheren Generationen) begründet liegt, hat das Kind als Erwachsener später keinen Zugang dazu, weil es im Grunde genommen gar nicht seines ist. Psychische und körperliche Erkrankungen liegen oft in diesen verleugneten und ungelebten Anteilen des wahren Selbst begründet, die unbewusst immer noch weiterwirken.

*

Im Jahr 2016 schrieb Martin Miller, der Sohn von Alice Miller, das Buch Das wahre „Drama des begabten Kindes“ und enthüllte, dass seine inzwischen verstorbene Mutter keine Beziehung zu ihm aufbauen konnte und jahrelang dabei zuschaute, wie sein Vater ihn verbal zunichte machte und regelmäßig körperlich misshandelte. Wie konnte das sein, bei einer Frau, die sich so engagiert und scheinbar empathisch für die Belange und Rechte von Kindern einsetzte? Und es kommt noch schlimmer: Martin Miller hatte erst sehr spät herausgefunden, dass seine Mutter Jüdin war und die Shoah überlebt hatte. (Sein Vater war Katholik). Nach seinem Buch begannen auch die vier Jahre währenden Dreharbeiten zu der Dokumentation Who's Afraid of Alice Miller? unter der Regie des Schweizer Filmemachers Daniel Howald. Der sagt:


"Der Film zeigt eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit vererbten, sogenannten transgenerationalen Traumata. Martin zieht los, um zu erfahren und zu erleben, was seine Mutter damals während des Holocausts in Polen durchmachen musste. Das Entdecken und Nacherleben des von den Eltern Verschwiegenen hilft, die eigenen Gefühle zu verstehen; schmerzhafte Gefühle, deren Wurzeln bis dahin im Dunkeln lagen. Martin war Teil des Krieges, ohne je selbst im Krieg gewesen zu sein. Die Begegnung mit dem Kontext und dem vorenthaltenen Wissen kann helfen, ein transgenerationales Trauma ertragbar zu machen.“


Martin Miller (Jahrgang 1950) hat im Film seine entzückende und couragierte Großcousine Irenka Taurik (Jahrgang 1933) an seiner Seite. Die alte Dame wagt mit dem Sohn ihrer Cousine die Reise nach Polen. Die beiden haben ein inniges Verhältnis zueinander, weil Irenka auf Wunsch seiner Mutter den neugeborenen Martin in den ersten sechs Monaten seines Lebens aufzog (was eine weitere Erklärung für die fehlende Mutter-Sohn-Verbindung ist). Die zierliche kleine Frau und der große, wohlgenährte Martin sind ein ganz besonderes Gespann. Mithilfe von Irenka Tauriks Erinnerungen, Besuchen von damaligen Lebensorten, Archiven und einigen fähigen MitarbeiterInnen an diesen Stätten gelingt eine teilweise Rekonstruktion der Geschehnisse. Dass doch einige Mitglieder der Familie das Warschauer Ghetto überlebt haben, grenzt an ein Wunder.

Das Team hat eine polnische Filmaufnahme aufgetrieben, in der Alice Millers Schwester Irena Majchrzak von den Geschehnissen während der NS-Zeit berichtete. Sie erzählt darin, dass es ihrer Schwester Alice gelungen war, aus dem Warschauer Ghetto zu entkommen und sich selbst wie auch anderen Familienmitgliedern falsche Papiere zu besorgen. Der orthodoxe, bärtige Vater blieb, weil er schlecht polnisch sprach und beschnitten war. Der Vater gab Irena mit auf den Weg, nie zu vergessen, dass sie Jüdin ist, der Onkel entgegnete, sie müsse vergessen, dass sie Jüdin ist, wenn sie überleben will. Wer überleben wollte, war zu Lug, Betrug und Selbstverleugnung gezwungen.

Der Film zeigt auch deutlich die dunkle Seite der Alice Miller, deren Auseinandersetzung mit ihrem Sohn über etliche Briefe erfolgte. Die Schauspielerin Katharina Thalbach verleiht Alice Miller eine Stimme für die teilweise bösen und gehässigen Worte und Vorwürfe, die sie an ihren Sohn richtete. Alice Miller verglich ihren Sohn sogar mit Adolf Hitler. Doch Martin Miller scheute weitere Konfrontationen mit ihr nicht. Alice Miller ließ sich mit 80 Jahren von dem Psychologen Oliver Schubbe behandeln. Den entband sie von seiner Schweigepflicht für die Zeit nach ihrem Tod. Möglicherweise war ihr klar, dass sie ihre Traumata selbst nicht mehr ausreichend würde bearbeiten können. Während der letzten Lebensjahre klangen ihre Worte schon versöhnlicher: „Es war mir nicht gegeben, eine gute Mutter zu sein.“

Bei dem ganzen Mutter-Sohn-Konflikt war Martin Millers Vater in den Hintergrund gerückt. Alice Miller beschrieb ihren Mann als ihren Peiniger und Verfolger: „In dir fürchtete ich ihn, deinen Vater“, erkannte sie später. Und Martin Miller wundert sich über sich selbst: „Ich habe vergessen, meinen Vater zu fragen: wer bist du eigentlich.“ - Das holen Martin Miller und Irenka Taurik in Polen nach und stoßen dort auf sehr unschöne Geschichten über ihn. Leider gibt es keine Zeitzeugen mehr. Der Hintergrund des Vaters bleibt nebulös, aber es wird klar, dass er eine entscheidende Rolle spielte, die Traumatisierung seiner Frau aufrecht zu erhalten.


Epilog

Mit Who's Afraid of Alice Miller? hat sich ihr Sohn Martin auf die Reise zu seinem wahren Selbst begeben. Er hat vollendet, wozu seine Mutter nicht mehr in der Lage war. Es reicht nicht aus, die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen intellektuell zu verstehen. Leider nicht. Im Idealfall gelingt es einem Betroffenen seine abgespalteten Gefühle zu erkennen, sie zu fühlen und das als inakzeptabel Abgestempelte in sich annehmen zu können. Diese Überwindung ist ein steiniger Weg, seinem wahren Selbst näher zu kommen. Martin Miller hat ihn gewagt und damit, wie seine Mutter damals, Menschen auf eine beispielhafte Reise mitgenommen. Erlösung bringt das keine, aber man bekommt wieder eine Anbindung an sich selbst.

Martin Miller hätte genug Gründe Rache nehmen zu wollen. Er wurde als Kind zwischenzeitlich ins Heim, später ins Internat gesteckt, erlebte zu Hause eine Hölle. Aber anstatt seine Mutter vom Sockel zu stoßen, setzt er ihre Arbeit fort und allen Opfern der Shoah ein filmisches Denkmal. Er ist selber Psychotherapeut geworden und zeichnet Perspektiven auf, wie man mit solchen Traumatisierungen umgehen kann.

Unser Schlusswort geht an Alice Miller aus Das Drama des begabten Kindes (Suhrkamp-Ausgabe von1982, S.178) über die erfolgreich Behandelten:


"Einem solchen Menschen kann man mit faszinierenden, unverständlichen Worten nichts mehr vormachen, weil er an Erlebnissen großgeworden ist. Schließlich wird ein Mensch, der sein eigenes Schicksal in seiner ganzen Tragik bewusst durchlitten hat, auch viel deutlicher und schneller das Leiden des anderen spüren... Er wird über fremde Gefühle, egal welcher Art, nicht mehr spotten können, wenn er die eigenen ernst nehmen kann. Er wird den Teufelskreis der Verachtung nicht mehr weiterdrehen.“



Martin Miller, der Journalist Martin Sander, Irenka Taurik und die Holocaust-Forscherin Katrin Stoll sprechen über die Rechercheergebnisse | © Arsenal Filmverleih

Helga Fitzner - 11. November 2021
ID 13286
Weitere Infos siehe auch: https://arsenalfilm.de/whos-afraid/index.htm


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