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27. Filmfestival Cottbus | 7. - 12. November 2017

Fazit des

Spielfilm-

Wettbewerbs




Betrachtet man das diesjährige Angebot im Spielfilmwettbewerb des 27. FILMFESTIVALS COTTBUS, fällt auf, dass sich mehr als 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks viele der Beiträge wieder mit den sozialen Verwerfungen der post-sozialistischen Gesellschaften in den Ländern Osteuropas beschäftigen. Die zum Teil radikal-ökonomischen Umwälzungen haben ihre Folgen hinterlassen. Nicht für jeden konnten sich die Träume von Freiheit und Wohlstand erfüllen.

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Besonders düster zeigen das zwei Spielfilme aus Albanien und Slowenien, die sich mit dem unmittelbaren sozialen Absturz ihrer Protagonisten beschäftigen. In Tagesanbruch / Daybreak von Regisseur Gentian Koçi kämpft die alleinerziehende Krankenschwester Violeta (Ornela Kapetani) um das tägliche Überleben. Sie ist nach einem Fall von Sterbehilfe aus der Klinik entlassen worden und verdingt sich nun als Pflegerin der ans Bett gefesselten Sophia, deren Tochter Ariana mit ihrem Mann in Frankreich lebt. Vom spärlichen Lohn kann Violeta ihre Wohnung nicht mehr bezahlen und wird von ihrem Vermieter kurzerhand vor die Tür gesetzt. Auch die Tagesmutter will den kleinen Sohn nicht mehr ohne Geld nehmen. Nachdem auch eine Freundin nicht mehr aushelfen kann, zieht Violeta ganz in Sophias Wohnung.



Tagesanbruch / Daybreak beim 27. Filmfestival Cottbus | (C) OYMO


Als Ariana mit ihrem Mann bei einem Autounfall stirbt, ist Violeta ganz auf die schmale Rente der alten Frau angewiesen, von der nun auch noch die teuren Medikamente bezahlt werden müssen. In der beengten Wohnung steht die verzweifelte Frau zwischen dem neuen Leben ihres Sohns und einem, das sich dem Ende neigt. Zudem bittet Sophia um die Erlösung von ihren Leiden. Der Film zeigt die Ausweglosigkeit einer Frau, für die es keine Alternative oder soziale Sicherung gibt und sich jeder der Nächste ist. Violeta lässt sich schließlich auf eine folgenschwere Affäre mit dem Postmann, der jeden Monat die Rente bringt, ein. Der eindrucksvolle Film endet als verstörender Kriminalfall.

Den trostlosen Bildern von ghettogleichen Wohnburgen Tiranas stehen die einer zunächst noch relativ heilen Familienwelt im Film Die Familie / The Basics Of Killing gegenüber. Der slowenische Regisseur Jan Cvitkovič ist langjähriger Teilnehmer des Cottbuser Filmfestivals und hat schon einige Preise mitnehmen können. Mit seinem düsteren Sozialdrama, das die Auswüchse eines existenzvernichtenden Sozialgesetzes behandelt, konnte er allerdings bei der Jury nicht punkten. Eine gehobene Mittelklassefamilie aus Ljubljana fällt, nachdem beide Elternteile auf unglückliche Weise ihre Arbeit verlieren, ins sprichwörtlich Bodenlose. Sie sind, da für die Sozialleistungen Schätzungen ihres Gehalts von vor zwei Jahren herangezogen werden, nicht zuschussberechtigt. Cvitkovič malt den Abstieg in aller Dramatik aus. Der Zerfall der Familien, bedingt durch Streit der Eltern und Alkoholexzesse des Vaters, hinterlässt vor allem bei den Kindern seine Spuren, die schließlich damit beginnen, für die handlungsunfähig gewordenen Eltern Essen zu stehlen.

Auch im aserbaidschanischen Spielfilm Der Granatapfelgarten / Pomegranate Orchad von Regisseur Ilgar Najaf führen ökonomische Zwänge zum familiären Drama. Der alte Shamil (Gurban Ismayilov) lebt mit seiner Schwiegertochter und deren Sohn von den Früchten seines Granatapfelgartens. Als nach 12 Jahren sein Sohn Gabil (Samimi Farhad) aus Russland wieder heimkehrt, gerät das sichere Gleichgewicht zwischen Natur und Familie aus den Fugen. Gabil hatte vor zwölf Jahren Frau und Kind verlassen, ohne je wieder von sich hören zu lassen. Durch Geschäfte angeblich reich geworden, will er nun seine Familie nach Moskau holen. Doch der Rückkehrer verheimlicht allen seine wahren Gründe. Regisseur Najaf ließ sich von Anton Tschechows Kirschgarten inspirieren und zeichnet in ruhigen Einstellungen eine Bild zwischen Tradition und Fortschritt, Einklang mit der Natur und rein wirtschaftlichen Interessen, denen nicht nur der Sohn sich gebeugt hat, sondern schließlich auch der Vater nachgeben muss.

Dass sich post-sozialistische Tristes auch ganz ohne Worte vermitteln lässt, zeigt der ukrainische Beitrag Black Level, der vom seelischen Verfall des Fotografen Kostya (Kostyantyn Mokhnach) handelt. In vielen stummen Einzelszenen führt Regisseur Valentyn Vasynovitch den eintönigen Alltag seines Protagonisten vor. Zwischen Auftragsarbeiten wie dem Fotografieren von Hochzeitpaaren und Kinderfesten sieht man Kostya bei langen Fahrten durch eine labyrinthartige Tiefgarage, beim Sex im Auto, dem Archivieren von alten Fotos und beim Klettertraining. Nachdem erst sein Vater und dann auch noch die Katze sterben, verfällt der schweigsame 50jährige immer mehr in eine stille Depression. Bilder von trüber Winterlandschaft, Plattenbauten und qualmenden Industrieanlagen erzeugen zusätzlich ein Bild der totalen Trostlosigkeit. Mitunter wirkt dieser semidokumentarische Stil allerdings schon etwas zu plakativ.

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Das den Wettbewerb in den letzten Jahren dominierende russische Kino war mit dem Spielfilm Ein Kopf. Zwei Ohren / Head, Two Ears von Regisseur Vitaly Suslin vertreten. Mit fast schon dokumentarischer Strenge zeigt Suslin zu Beginn den Alltag seines jungen Protagonisten auf dem russischen Land, der sich zwischen Viehstall, Suppe löffeln und Bier aus dem Dorfkonsum holen erschöpft. Ivan (Ivan Lashin) ist ein naiver, fast schon treudummer Kindskopf, der auf die Offerte eines Fremden ihn in die Stadt mitzunehmen, ohne lange zu überlegen eingeht. Dort wird er in einem schicken Konsumtempel neu eingekleidet, auf eine Kredit-Betrugs-Tour geschickt und schließlich in einem Edel-McDonald‘s allein zurückgelassen. Der Film begleitet Ivan nun dabei, wie er in stoischer Beharrlichkeit jeden noch so aussichtslosen Straßenverkaufsshop annimmt, um sich seinen Traum vom Glück, das in einem immer wieder eingespielten Naturidyll mit der Partnerin des Betrügers besteht, zu erfüllen. Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, die der Hauptdarsteller, der sich hier tatsächlich auch selbst spielt, dem Regisseur erzählt hat.

Wahre Begebenheiten sind immer wieder Inspirationsquellen für Filmemacher. So auch für den polnischen Regisseur Maciej Piepryza, der einen Kriminalfall aus den 1970er Jahren erst als Dokumentar- und nun als Spielfilm aufgegriffen hat. In I’m A Killer / Ich bin der Mörder verfilmte Piepryza die Suche nach dem berüchtigten „Vampir von Oberschlesien“. Der Mann hatte gedroht, zum 30. Jahrestag Volkspolens für jedes Jahr eine Frau zu ermorden. „Der Kommunismus ist rot wie Blut“, heißt es in einem Bekennerschreiben. Auf immerhin 12 Opfer hatte es der Serienmörder geschafft.



I´m A Killer | (C) The Moonshot Company


Hauptakteur ist der junge Kommissar Janusz (Mirosław Haniszewski), der zur Lösung des Falls unverhofft zum Chef einer Sondereinheit ernannt wird. Da dem Killer auch die Schwägerin eines hohen Parteisekretärs zum Opfer fiel, müssen schnellstens Ergebnisse her, die Janusz mit Hilfe von psychologischen Profilen und neuester Computerauswertung erzielen will. Der Film zeigt nicht ohne Humor die graue Tristes des Katowicer Kohlereviers, seine prekären Gestalten und politischen Zwänge, denen das Team um den jungen aufstrebenden Kommissar ausgesetzt ist. Trotz dass bei einigen seiner Kollegen Zweifel an der Täterschaft des gefassten Verdächtigen aufkommen, bleibt Janusz hart und beginnt ein psychologisches Spiel mit dem Inhaftierten. Schließlich lässt er sich von den Vorgesetzen und politischen Machthabern korrumpieren und setzt alles daran, Zeugen, Gericht und sogar die Familie des Angeklagten zu manipulieren. Das ist spannend und glaubwürdig erzählt. Auch wenn der Film nach dem Mainstream und einer kommerziellen Verwertung schielt, mindert das die Regieleistung von Piepryza nicht und wurde von der Spielfilm-Jury sogar für preiswürdig erachtet. Mirosław Haniszewski bekam dazu noch den Preis für den besten männlichen Darsteller.

Auch der Preis für die beste Darstellerin geht nach Polen und komplettiert den polnischen Erfolg im Wettbewerb mit dem Spielfilm Wilde Rosen / Wild Roses der Regisseurin Anna Jadowska, was durchaus erfreulich ist, wird hier nicht nur das eindrückliche Portrait einer fragilen Frauenfigur prämiert, sondern geht der Hauptpreis für den besten Film endlich mal wieder an das Werk einer Regisseurin, wobei es in diesem Jahr tatsächlich nur ganze zwei Frauen mit ihren Filmen in den Wettbewerb geschafft hatten. Das konnte das Film Festival Cottbus durchaus schon besser.



Wild Roses von Anna Jadowska | (C) Antipode


Wilde Rosen führt aufs polnische Land, wo traditionell die katholische Kirche und geordnete Familienverhältnisse den Alltag bestimmen. Marta Nieradkiewicz spielt die junge Mutter Ewa, die sichtlich von dem Erwartungsdruck, der auf ihr lastet, überfordert zu sein scheint. Zudem fühlt sie sich von ihrem Mann, der lange Zeit auf Montage im Ausland war, alleingelassen und geht eine folgenschwere Affäre mit einem 16jährigen Jungen ein. Als ihr Mann zurückkehrt und von den Gerüchten im Dorf erfährt, bricht der Konflikt offen aus und drängt Ewa dazu sich anzupassen oder die Verantwortung für ihr Leben selbst zu übernehmen. Das ist eindrucksvoll gespielt und lässt einen nicht unberührt.

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Mit Medienkritik beschäftige sich der rumänische Beitrag Breaking News von Regisseurin Julia Rugină. Der Film erzählt von der Recherche des Fernsehreporters Alex (Andi Vasluianu) für einen Nachruf auf seinen Kameramann, der bei einer gewagten Reportage in einer explodierten Fabrik ums Leben gekommen ist. Alex fühlt sich am Tod des Kollegen schuldig und beginnt dessen Tochter über das ihm unbekannte Leben ihres Vaters auszufragen.

Auch der bulgarische Beitrag Omnipräsent / Omnipresent von Regisseur Ilian Djevelekov behandelt mit einer ständig in der Öffentlichkeit präsenten Videoüberwachung ein gesellschaftliches Problem. Allerdings verlegt der Regisseur seinen Plot in den privaten Bereich, in dem der Werbemanager Emil (Velislav Pavlov) seine zur Entlarvung eines Diebs installierte Technik zunehmend für persönliche Zwecke ausnutzt und beginnt Gott zu spielen. Das führt neben dem Gefühl der absoluten Macht auch zu einigen unangenehmen Enthüllungen. Leider ist der recht geschwätzige Film auf die Dauer nicht wirklich interessant.

Kommerzieller Erfolg sollte auch der slowakisch-ukrainischen Koproduktion Die Linie / The Line vom slowakischen Regisseur Peter Bebjak beschieden sein. Die tragikomische Mafia-Story über eine Bande Zigarettenschmuggler im Wandel der Zeit an der slowakisch-ukrainischen Grenze erinnert mit ihrem Soundtrack, den skurrilen Typen und einem guten Schuss schwarzem Humor an Balkanfilme von Emir Kusturica. Nebenbei behandelt der Film auch aktuelle Problemthemen wie durch skrupellose Schleuserbanden ausgenutzte Flüchtlinge, den Drogenschmuggel und korrupte Polizeibeamte.

Auch der ebenfalls breit koproduzierte Spielfilm Out vom ungarischen Regisseur György Kristóf ist ein filmischen Kleinod, das nicht unerwähnt bleiben sollte. Der Film folgt dem mit seiner Familie in der Slowakei lebenden Ungarn Ágoston (Sándor Terhes) auf Arbeitssuche nach Lettland. Schon sein Anstellungsgespräch auf einer Werft ist mehr als merkwürdig. Der gutmütige Anglerfreund Ágoston ist Ausländerfeindlichkeit ausgesetzt und muss sich nach seiner Entlassung durch die lettische Winterlandschaft schlagen, wo er ausgestattet mit einem ausgestopften Hasen ohne Ohren auf weitere skurrile Typen wie einen russischen Geschäftsmann mit seiner schönheitsoperierten Superfrau trifft. Was Ágoston antreibt, ist die Sehnsucht nach dem Meer. Mit seinem alkoholgeschwängerten aber sonst recht trockenen Humor atmet der Streifen ein gehörige Prise Kaurismäki-Flair.


Stefan Bock - 14. November 2017
ID 10371
Weitere Infos siehe auch: http://www.filmfestivalcottbus.de


Post an Stefan Bock

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27. Filmfestival Cottbus:
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