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72. BERLINALE

WETTBEWERB

Everything will be ok


Bewertung:    



Ich bin nach meinen 37 Jahren BERLINALE nicht ganz sicher, aber meines Wissens ist dies der erste Experimentalfilm, der einen Preis im Wettbewerb des Festivals erhält – von vermutlich allenfalls einer Handvoll solcher Filme, die überhaupt je im Hauptprogramm präsentiert wurden (mir fällt spontan keiner ein). Dies gilt jedenfalls unter der Prämisse, wenn man Experimentalfilm als Filmformat definiert, dass ohne klassische Dramaturgie bzw. Handlung und ohne Darsteller*innen auskommt, also nicht „gegenständlich“, sondern „abstrakte Form“ hat (Buchers Enzyklopädie des Films, 1977). Nun also ein Silberner Bär für eine besondere künstlerische Leistung an den französischen Regisseur mit kambodschanischen Wurzeln, Rithy Panh.

Panh hat schon einmal einen Preis in Berlin gewonnen und zwar für Irradiés 2020, der aber ein klassischer Dokumentarfilm war und als solcher prämiert wurde. Panh ist 1980 vor dem ultrabrutalen kommunistischen Regime der Roten Khmer 1980 nach Paris geflohen, wo er an der Filmhochschule studierte. Seither inszeniert er vor allem Dokumentarfilme, die auf unterschiedliche Weise die Tragödie seines Heimatlandes und der Vernichtungspolitik der Roten Khmer gegenüber der Zivilbevölkerung in Kambodscha, insbesondere der Intellektuellen, behandeln. Sein für mich bisher eindrucksvollster Film, L’image manquante, war 2013 als erste kambodschanische Produktion für den Oscar nominiert.

All dies sollte man wissen, wenn man sich mit seinem neuen Werk mit dem höchst ironischen Titel Everything will be ok beschäftigt. Anders als seine vorigen Filme unternimmt Rity Panh hier einen Rundumschlag und belässt es nicht mit dem Fokus auf Kambodscha oder den asiatischen Diktaturen, sondern reflektiert über das gesamte 20. Jahrhundert mit seinen diversen menschenvernichtenden ideologischen Regimen. Aber nicht nur!: Auch das in dramatische Schieflage geratene Verhältnis zwischen Mensch und Tier bzw. Mensch und Umwelt, die Ausbeutung und Versklavung von Mensch und Tier zugunsten kapitalistischer Exzesse und die Vereinnahmung und Dehumanisierung von Wissenschaft und Technik zugunsten des ökonomischen Erfolges – die Instrumentalisierung der praktischen Vernunft, um mit Immanuel Kant zu sprechen – werden aufgerollt.

Harte Brocken also, denen sich Panh aber auf originelle Weise widmet: Er ließ kleine Holzfiguren schnitzen, die in Schaukästen stehen, so genannten Dioramen. Die tierischen oder menschlichen Figürchen sind aber nicht durch digitale Tricks zum Leben erweckt, sondern stehen starr in den Kulissen von zerbombten, heruntergekommenen Städten, Feldern und Dschungeln und gruseligen Folterlaboren herum. Es gibt keine wirklich bewegten Bilder, sondern lediglich einen Wechsel von Halbnah- und Großaufnahmen sowie Schwenks. Nur die Geräuschkulisse und die wahrhaft schön modulierte Stimme einer anonymen Erzählerin aus dem Off (Rebecca Marder) spricht von der Auslöschung der Menschheit durch einen Aufstand der Tiere, die sich die Quälerei nicht länger antun lassen wollen und mit den Waffen der Menschen zurückschlagen:

Sie wenden die Ideologien der Menschen, die zu Versklavung, Folter, Massenmord, Krieg und Zerstörung führen, gegen die Menschen an und unterdrücken sie – oder nehmen ihnen gleich die menschliche (!) Würde, indem sie sie durch Chip-Implantierung zu willfährigen Maschinen degradieren. Aber das ist nur ein Teil dessen, von dem die weibliche Stimme erzählt, denn es geht auch um Geschichte und Traditionen von Völkern, Ängsten und Vorurteilen, die geschürt werden, und der meist vergeblichen Gegenbewegung durch Kunst, Poesie und Aufklärung. Da diese Themenvielfalt nicht ganz und gar durch die Tableaus der Dioramen abgebildet werden kann, feuert Regisseur Panh alle paar Minuten gesplittete Bildcollagen dazwischen, bei denen zwei Bildfolgen in sechs Teilen (also 2x3) die Leinwand füllen.

Panhs Bemühungen, den Katstrophen des 20. Jahrhunderts halbwegs gerecht zu werden, in allen Ehren, aber ich hätte es für klarer, stichhaltiger und überzeugender gehalten, wenn er sich zumindest visuell beschränkt hätte. Das Feuerwerk aus alten, sattsam bekannten Aufnahmen aus Nachrichtensendungen und Wochenschauen mit Auftritten von Hitler, Mussolini, Stalin, Mao und Pol Pot, von Bombardierungen, Hinrichtungen und Erschießungen in Welt- und Bürgerkriegen, von Atombombenexplosionen, von Experimenten an Tieren sowie deren Massenhaltung, Quälen und Schlachten erinnert an Filme wie den Koyaanisquatsi-Zyklus oder Musikclips und Kunstperformances der 80er Jahre. Tatsächlich baut Panh auch ikonische Clips aus bitteren Spielfilmvisionen wie Metropolis ein. Es wirkt auf die Dauer ermüdend statt provozierend und schwächt die Originalität des achtbaren Dioramen-Konzepts deutlich ab.

Auch der untergründige, grimmige Humor von Panhs Fabel über die Revolution der Tiere – Orwell lässt grüßen – wirkte wohl stärker, wenn er sich auf die Puppen und die Erzählstimme fokussiert hätte. So aber geht auch ein Teil der kritischen Attitüde in dem Gruselgeflimmer alten Filmmaterials unter. Mich und etliche andere Kritiker hat Panhs Konzept der künstlerischen Bewältigung des Schmerzes über den Zustand der Menschheit und der von ihr ruinierten Welt nicht überzeugt – aber darüber lässt sich trefflich streiten!

Zu Beginn des Films gibt es eine selbstbewusste, eindeutige Referenz an 2001 – Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrick, als ein Steinquader inmitten unserer affenähnlichen Vorfahren aus der Erde ragt und für Aufregung sorgt. „Ich bin das Archiv“, sagt eine Frauenstimme. Das könnte bedeuten, dass Panh den Beginn der Menschheit sehr viel pessimistischer als Kubrick interpretiert, nämlich nicht als Aufbruch des Geistes, sondern in das Elend der Weltgeschichte, deren neure, filmischen Zeugnisse er konsequent über das Publikum ausschüttet. Ich erwartete deswegen noch den Ausschnitt aus Uhrwerk Orange von Kubrick mit dem zum Hinsehen und zu einer Aversionstherapie gezwungenen Alex. Aber vor dieser fiesen Assoziation hat Panh wohl doch zurückgeschreckt.



Everything will be ok von Rithy Panh | (C) Anupheap Production

Max-Peter Heyne - 18. Februar 2022
ID 13468
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de


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