Von Würstchen der Wahrheit und süßen Früchtchen der Fiktion
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Litfaßsäule mit Schuld und Sühne-Plakat des Staatsschauspiels Dresden | Foto: Stefan Bock
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Bewertung:
"Die Würstchen der Wahrheit, die für uns gebraten werden, wollen wir nicht mehr essen." So verkündete es Wolfram Lotz in seiner 2010 geschriebenen Rede zum unmöglichen Theater. Der junge Dramatiker taucht nicht zum ersten Mal in einer Inszenierung von Regisseur Sebastian Hartmann auf. Auch in dessen Inszenierung des Lotz-Stücks Der große Marsch 2013 in Leipzig ist diese Rede enthalten. Vor gut einem Jahr durchzogen Passagen der 2017 von Wolfram Lotz gehaltenen Hamburger Poetikvorlesung Hartmanns erste Arbeit für das Staatsschauspiel Dresden. Erniedrigte und Beleidigte von Fjodor Dostojewski gerieten dem Leipziger Ex-Intendanten zum großen Abend über das Hadern und Ringen am eigenen Künstlertum. Würstchen, die oft etwas höher hängen, als den meisten Theaterkonsumenten und einigen regieführenden "Würstchenpetern des Bestehenden"lieb ist. Man könnte das auch als künstlerisches Verwursten bezeichnen. Ein Crash von Text und realer Aufführung. Theatrales Hackfleisch sozusagen, natürlich ganz im poetischen Sinne. "Die Gleichzeitigkeit von Welt und Wirklichkeit." Die reale Welt bricht ins Theater und wird Fiktion, während die Kunst ihre eigene Wirklichkeit daraus erzeugt. Das Scheitern natürlich immer inbegriffen.
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Diese Art von Kunst-Würstchen schmecken bekanntlich nicht jedem. Der Genuss will sich vor allem beim geneigten Publikum oft nicht sofort einstellen. So auch bei Hartmanns zweiter Dresdner Dostojewski-Inszenierung Schuld und Sühne. Der Roman, der nach jüngster Übersetzung von Swetlana Geier eigentlich Verbrechen und Strafe heißt, scheint wie geschaffen für eine relativ offene Dramaturgie. Ein assoziatives Verfahren, wie es Sebastian Hartmann liegt. "Ein Autor des Unmöglichen Theaters unterwirft sich beim Schreiben nicht der Realität, sondern nur der Kunst", schreibt Lotz weiter. Man muss das schon erwähnen, obwohl die Passagen seines theatertheoretischen Textes wie zur Entschuldigung des Vorangegangenen erst am Ende des Abends nachgeschoben werden. Die Regie versteckt sich da erstaunlicher Weise ein wenig hinter dem Autor, nicht des behandelten Stoffs, sondern eines Sekundärtextes zur Veranschaulichung der Arbeit am Primärtext. Ob sie das wirklich nötig hat, sei mal dahingestellt.
Erstaunlich auch die Dauer von nur ca. 1 Stunde 45 Minuten, in denen man den Inhalt des Romans höchstens anreißen kann. Der Grundplott sei hier trotzdem kurz skizziert: Der verarmte Student Raskolnikow ermordet eine wucherische Pfandleiherin, weil sie in seinen Augen wertlosen Leben darstellt. Er unterscheidet in seiner Rechtfertigung der Tat zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Menschen und fühlt sich selbst einer höheren Idee verpflichtet, die ihn ermächtigt, sich über das Gesetz zu stellen. Als Beispiel führt er hier Napoleon an. Im Verlauf des Romans mit seinen vielen Nebensträngen lernt er die Familie der jungen Prostituierten Sofja kennen und beginnt an sich zu zweifeln. In zahlreichen Vernehmungen mit dem Untersuchungsrichter Porfirij verstrickt sich Raskolnikow immer mehr in Widersprüche. Auf Anraten Sofjas stellt er sich schließlich und übernimmt die Verantwortung für den Mord. Dostojewski stellt hier die moralisch ethische und religiöse Frage nach der Macht des einzelnen Menschen über andere.
Sebastian Hartmann verallgemeinert das in seiner Inszenierung auf die Geschichte der Menschheit mit ihren ideologisch geführten Kriegen für politische Ideen, wirtschaftliche oder andere Machtinteressen und ihren zahlreichen Opfern. In einer Art Prolog lässt er auf der zunächst weißen Rückwand im fast unerträglichen Stakkatostil Videobilder von Krieg, Massenmord, Hunger- und anderen menschlichen Katastrophen ablaufen. Dazu stammelt Linda Pöppel Worte und scheinbar zusammenhanglose Satzfetzen, die die soundgewaltig unterlegten Bilder kommentieren. Die Bild- und Soundregie gewinnt hier klar die Oberhand. Die DarstellerInnen werden zu Trägern rein assoziativer Stimmungen. Jeder Abend soll anders sein, wie der Dramaturg der Produktion in der Einführung versichert. Der gesetzte Anfang Linda Pöppels und das Ende, bei dem Yassin Trabelsi den Lotz-Text bei eingeschaltetem Saallicht spricht, stehen neben einem relativ freien Spiel des Ensembles dazwischen.
Fiebrig wie Raskolnikow Tigern die DarstelerInnen in schwarzen Kostümen über die dunkle Bühne, schieben kleinere Videoscreens oder die Kulisse einer Kirche herein, die sich später öffnet und ein Gerüst mit Kreuz freigibt. Fast willkürlich gehen sie an ein Mikrofon und sprechen Fragmente aus dem Roman. Erkennbar immer wieder die Thesen Raskolnikows von der größeren Idee, der Vernichtung einer Laus, oder religiöse Fragen, die sich um Angst, Vergeltung und Vergebung drehen. Die Rückwand zeigt dazu die menschliche Apokalypse des 20. und 21. Jahrhunderts als Rückblick auf ein Zeitalter der Diktatoren, politischen Führer, der Kriege, des technischen Fortschritts und ihrer Opfer. Wie Benjamins Engel der Geschichte schwebt eine geflügelte Figur in einem schwarz-weißen Tafelbild des Leipziger bildendenden Künstlers Tilo Baumgärtel über den apokalyptischen Szenen.
Fanny Staffa weint am Ende allein auf der wieder leeren Bühne und verweigert das ihr hingehaltene Mikrofon. Der Sound des Bilder-Infernos rauscht weiter aus einer Box, die die Schauspielerin wie ein Kind in ihren Armen zu beruhigen versucht. Das grenzt natürlich an eine multimediale Überforderung des Publikums, das die ihm gebotenen visuellen und akustischen Reize kaum verarbeiten kann. Künstlerisch ist das sicher eine recht gelungene Bühnencollage aus Bild, Ton und Textsplittern, wie wir sie zum Beispiel auch von Regisseur Kay Voges kennen. Nur hält sich Hartmann mit belehrenden und dechiffrierbaren Textzitaten zurück, was den Abend auf der Bildebene ein deutliches Übergewicht gibt, dem Publikum aber kaum narrative Strohhalme hinhält. "Die Fiktion ist unsere kümmerliche Hand, die aus der Kiste der Wirklichkeit heraus nach süßen Früchtchen greift, die dort doch hängen müssen", heißt es da bei Lotz. Aber gerade diese (Kunst)früchte hängen doch meistens ziemlich hoch.
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Stefan Bock - 12. Juni 2019 ID 11494
SCHULD UND SÜHNE (Schauspielhaus, 10.06.2019)
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Musik: Samuel Wiese
Lichtdesign: Lothar Baumgarte
Video und Kamera: Christian Rabending
Tonassistenz: Emily Kuhlmann
Live-Schnitt: Thomas Schenkel, Diana Stelzer
Wandzeichnung: Tilo Baumgärtel
Dramaturgie: Jörg Bochow
Mit: Luise Aschenbrenner, Moritz Kienemann, Philipp Lux, Linda Pöppel, Torsten Ranft, Lukas Rüppel, Fanny Staffa, Nadja Stübiger und Yassin Trabelsi
Premiere am Staatsschauspiel Dresden: 31. Mai 2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsschauspiel-dresden.de/
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