Eine Reise
ins Herz der
deutschen
Finsternis
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Oliver Möller, Anna Graenzer und Arthur Klemt (v.l.n.r.) in Der Sandmann am Residenztheater München | Foto (C) Matthias Horn
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Bewertung:
Es dreht sich alles ums Auge. Doch der Augenschein, er trügt. Das gefährdete Auge und der trügerische Schein, ein großes Thema der Romantik, ein großes Thema von E.T.A. Hoffmann. Und es ist schwarz.
Schwarz wie die Bühne (von Maximilian Lindner) im Münchner Marstall. Beherrschend eine mit psychedelisch bemalten Augäpfeln versehene Wand, die, umgedreht, eine kleine Guckkasten-Bühne ergibt. Und ein riesiger Ball, luftig aufgehängt. Auch auf ihm drehen sich Kreise ineinander - wie die rollenden Augen der Schlange Ka aus dem Film Dschungelbuch. Gleich werden sich darauf allerlei Videoprojektionen abspielen, gespenstische Bilder gezeigt werden: verzerrte Gesichter, erschreckende und erschreckend komische Szenen, dazu der bleiche Mond. Aug in Aug mit den Zuschauern direkt davor.
E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann von 1815, die seinen zweiteiligen Zyklus Nachtstücke einleitet, ist oft gedeutet worden, gerade weil sie so rätselhaft wirkt, so viele Spuren legt und ein raffiniertes Verwirrspiel mit dem Leser anstellt. Im Zentrum steht der Student Nathanael, dessen Leben von einem Trauma beherrscht wird, der Geschichte vom Sandmann. Als Kind erlebt er das Ammenmärchen als unheimliche Bedrohung. Dieser Sandmann werde den Kindern die Augen ausreißen, wenn sie nicht einschlafen. Später vermischt sich die Figur mit der furchterregenden Erscheinung des Advokaten Coppelius, der zusammen mit Nathanaels Vater alchimistische Versuche bestreibt, die den Vater das Leben kosten. Später, als Physikstudent und Dichter, trifft Nathanael auf den „Wetterglashändler“ Coppola, in dem er Coppelius wiederzuerkennen glaubt. Er kauft dem Doppelgänger ein Fernglas ab, mit dem er vor allem dessen Tochter betrachtet. Durch das Glas sieht er scharf, erkennt aber nicht, dass Olimpia eine Puppe ist. Nathanael verliebt sich in dieses Wesen, verlässt für sie seine Verlobte Clara. Als er die Täuschung wahrnimmt, verfällt er dem Wahnsinn und stürzt sich endlich von einem Turm zu Tode.
*
Der junge Regisseur Robert Gerloff hat die kaum nachzuerzählende Geschichte in viele kurze Kapitel unterteilt. Sie reißen alle möglichen Themen assoziativ an, die in Hoffmanns vieldeutiger Erzählung stecken und versuchen sie zu aktualisieren, auf unsere Gegenwart zu beziehen – mit witzig eingestreuten Rätseln, Gegenwartstexten, Zitaten. Parallelen liegen in der Tat auf der Hand.
Hoffmann übt Kritik an der Aufklärung - auch in Form von Nathanaels Freundin Clara, die für seine Ängste kein Verständnis hat, sie als individuelle Einbildung abtut. Sind sie wirklich nur ein persönliches, zu therapierendes Trauma? Ist die Nachtseite der Vernunft ein Fall für die Psychiatrie?
Hoffmanns Kritik richtet sich an das Frauenbild seiner und unserer Zeit. Das Schönheitsideal eines glatten, unbewegten Gesichts ohne Geist und Persönlichkeit ist Realität. Nathanael zur Klassik-Parodie Olimpia, dem hehren, seelenlosen Automaten: „Du bist die perfekte Frau, du sprichst nicht.“ Und wenn doch, dann klingt Olimpias mageres „ach“ so wie heute die Navigationshilfe Siri. Tja. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten", trällert Olimpia (auch als Clara perfekt: Anna Graenzer) herrlich künstlich und stocksteif vor goldener TV-Kulisse: Deutschland sucht die Superfrau. Noch immer dieselbe.
Dazu passt der Narzissmus des Künstlers Nathanael (verletzt und getrieben: Oliver Möller), der sich im Auge des Gegenübers spiegelt: „In ihren leeren Augen ist Platz für meine Herrlichkeit.“ Ein Phänomen, das heute im Zeitalter medialer Vertwitterung und Instagrammitis weit über die Kunst hinausreicht.
Und natürlich geht es um die Politik seiner Zeit, die sich dem durchaus gespenstischen Napoleon unterwirft - in Form des allmächtigen Demagogen und Manipulatoren Coppelius/Coppala (schön fies: Aurel Manthei). Der Salonfaschist Prof. Spalanzani (beeindruckend: Manfred Zapatka) verbreitet unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft in einem langen Vorlesungs-Monolog das neue (rechte) Denken von nationaler Identität und der reinigenden Naturgewalt des Krieges: „Ein Riss geht durch unser Land. Wir vergrößern ihn. Und in den Abgrund werden alle gestürzt, die nicht mit uns sind.“
Angela Obst (Dramaturgie) und Robert Gerloff haben ein spannend aktuelles Gruselstück um Wahn und Wirklichkeit, die Angst vor dem Verlust von Orientierung, eben des Sehens, nicht ohne Witz umgesetzt.
Leider verliert sich die verzweifelte Dramaturgie der Zentralfigur im zweiten Teil zugunsten der politischen Bezüge. Wenn Nathanael, der bei Hoffmann im Wahnsinn umkommt, am Ende untergehakt mit Clara in so etwas wie Zukunft aufbricht und lediglich vorschlägt, dass man sich ab sofort doch besser siezen solle, dann wirkt das doch ein wenig harmlos – so wie das Schluss Lied vom Sandmann.
Oder müssen wir uns nun erst recht fürchten vor deutscher Finsternis? Kriegen wir wieder Sand in die Augen gestreut?
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Manfred Zapatka (li) und Oliver Möller in Der Sandmann am Residenztheater München | Foto (C) Matthias Horn
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Petra Herrmann - 8. April 2019 ID 11341
DER SANDMANN (Marstall, 07.04.2019)
Regie: Robert Gerloff
Bühne: Maximilian Lindner
Kostüme: Johanna Hlawica
Musik: Cornelius Borgolte
Licht: Martin Jedryas
Video: Marie-Lena Eissing
Dramaturgie: Angela Obst
Besetzung:
Coppelius / Coppola ... Aurel Mathei
Nathanael ... Oliver Möller
Olimpia ... Anna Graenzer
Professor Spalanzani / Nathanaels Vater ... Manfred Zapatka
Lothar / Nathanaels Mutter / Siegmund ... Arthur Klemt
Premiere am Bayerischen Staatsschauspiel: 31. März 2019
Weitere Termine: 14., 20.04. / 09., 12., 24.05.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.residenztheater.de
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