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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Am Beispiel des Kühlschranks

oder Es geht ein Riss durch

den Saal

WIR SIND AUCH NUR EIN VOLK nach Jurek Becker am Staatsschauspiel Dresden

Bewertung:    



Jurek Becker war ein Alleskönner, Literatur und Film, E und U, nichts, was der leider schon mit 60 Jahren gestorbene Schriftsteller nicht gekonnt hätte. Vom Nationalpreis der DDR über den SED-Ausschluss und die Oscar-Nominierung bis zum Grimme-Preis gab es dafür alles, was Ehre macht. Zu den Glanzpunkten gehört zweifellos die Fernsehserie Wir sind auch nur ein Volk, zu der er 1994 die Drehbücher schrieb. Ein Beitrag des deutschen Fernsehens zum Zusammenwachsen sollte das sein, und gemeinsam lachen ist dafür sicher nicht die schlechteste Idee.

Fast 25 Jahre später bringt das Staatsschauspiel Dresden eine Bearbeitung auf die große Bühne des Kleines Hauses und vervollständigt damit das Eröffnungswochenende dieser Spielzeit. Da wohl noch niemand zuvor auf die an sich nahe liegende Idee einer theatralen Fassung kam und dank einiger Beigaben zum Stoff haben wir es mit einer Uraufführung zu tun.

Vorweg: Nachdem der erste große Ärger über einen völligen Missgriff nach der Pause verraucht ist, kann ich insgesamt doch einen guten Abend bescheinigen. Zum „sehr gut“ fehlt die Haltung, und die mitunter überzogene Ostalgie mag „breite Kreise der Bevölkerung“ (um im Duktus zu bleiben) zufriedenstellen, mich nervt sie eher. Dennoch begeistern die Vielzahl an durchdachten und gut inszenierten Szenen (Regie: Tom Kühnel), das Bühnenbild von Maria-Alice Bahra, ganz besonders die perfekt getroffenen Kostüme von Ulrike Gutbrod, die Musikauswahl von Matthias Trippner im Prinzip auch (selbst wenn sie weh tat) und die Live-Kamera von Bert Zander, die der Enge der Grimmschen Wohnung Ausdruck gab, bekommt ein Sonderlob. Da Herr Zander aber auch die eigentlich sehr passenden Video-Szenen verantwortete und damit vermutlich auch die viertelstündige Publikumsquälung vor Beginn, zieh ich ein Quant davon ab.

Da macht also showtechnisch und auf den Vorhang projiziert der Teil der Unterhaltungskunst-Elite des Ostfernsehens, der es bis dato noch nicht auf die Pay-Roll von ARDSAT1RTLZDF geschafft hatte, gute Miene zum Abwickel-Spiel und feiert die letzten Minuten des DFF, das Fernsehballett wackelt zum letzten Mal mit den Hintern. Dann aus, aus, aus – Ostfernsehen hat Feierabend.

„N’Abend.“ Sechs lebensgroße Mainzelmonster erscheinen aus dem Bühnennebel und sind die Fernsehdirektoren der Siegermacht, das ist witzig und trifft auf ein dankbares Publikum. Die Mickey-Mouse-Vertonung ist allerdings anstrengend und Geschmackssache.

Eine Serie soll es sein zur Einheit, aus dem normalen Leben und trotzdem witzig, kritisch, aber positiv. So ähnlich hätte es die Kulturbürokratie der DDR auch formuliert, aber das tut hier nichts zur Sache. Als Autor wird ein Feingeist gewonnen, dessen Edelfeder sich erst sträubt, aber der materiellen Verlockung erliegt. Die Bedingung: Der Ost-Unkundige soll einen Crashkurs im Ossie-Wesen erhalten, live und mit echten Menschen. Eine Familie zum Beiwohnen ist schnell gefunden, auch hier greifen die pekuniären Argumente, das Bewerbungsvideo der Grimms ist die erste Köstlichkeit des Abends.

Der folgende Aufbau des Bühnenbildes beweist ein letztes Mal die historische Überlegenheit des Plattenbaus, in Windeseile ist das Arbeiterundbauernschließfach errichtet. Der Gast kann kommen und tut dies mit einiger Beklemmung. Thomas Eisen ist ein fast schon zu sympathischer Steinheim, von der Empfindsamkeit des Großschriftstellers, der erwachenden Neugier auf eine andere Welt, der scharfen Einvernahme des vermeintlichen Stasi-Spitzels bis hin zum Aufbegehren gegen die Fernseh-Bonzen bringt er alles, was nötig ist.

Natürlich knirscht es am Anfang, zumal mindestens zwei der vier zu Observierenden wenig Spaß an der Zoo-Situation haben. "But money makes the world go around", und ohne bleibt sie stehen, deswegen fügen sich Opa Blauhorn (Thomas Neumann in einer dankbaren Rolle) und Sohn Theo (Philipp Grimm als Widerpart nicht ganz so überzeugend) schließlich. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, dieses schöne Zitat fällt leider nicht.

Was ist ein "Диспетчер"? Im Prinzip ein Mangelverwalter, der demzufolge in der DDR dringend gebraucht wurde. Danach dann nicht mehr so sehr, deswegen sitzt Benno Grimm mit Mitte 50 zu Hause und pflegt seinen Frust. Holger Hübner hat die zweite sehr dankbare Rolle des Abends übernommen (ich hätte mir keinen anderen aus dem Ensemble dafür vorstellen können), und er macht das großartig. Das ist keine Karikatur, das ist ein Original. Bravo. Kongenial begleitet durch die Frau an seiner Seite, Trude (Nadja Stübiger), die inzwischen auch die Ernährerin der Familie ist, dank des allerdings wackeligen Lehrer-Jobs, was die Familienstatik durchaus beeinträchtigt.

Diese vier haben nun die Aufgabe, dem Poeten West das Leben Ost nahezubringen, gegen Entgelt, was später zu bizarren Verrenkungen führt bis hin zum Engagement eines arbeitslosen Schauspielers (Moritz Dürr) als Stasi-Darsteller. Aber vorher gibt es noch einen geschichtlichen Abriss als Doku-Theater, am Beispiel des Kühlschranks aus Schwarzenberg wird die unrühmliche Rolle der Treuhand-Anstalt beleuchtet, historisch präzise, inhaltlich und stilistisch ein Volltreffer.

Opa macht dann Geschichten, um den Gast bei der Stange zu halten, Benno bringt das wunderbare Bonmot „die Stimmung im Osten hielt sich in Grenzen“ und die Familienzusammenführung mit dem damalig republikflüchtigen Bruder (auch Moritz Dürr) und seiner Ruhrpott-Tussie (Betty Freudenberg hinreißend dämlich) endet in einer Katastrophe. Die immer noch sehr spannende Frage, inwieweit man seinen eigenen Wünschen folgen kann, wenn man damit Das Leben der Anderen beeinträchtigt, wird angerissen, bleibt aber offen, das ist sicher auch nicht der richtige Ort für Vertiefungen.

Von etwas rührseligem Quark abgesehen, geht es auch gut weiter, die Forderung der Fernsehgewaltigen „lustig und anspruchsvoll“ gilt natürlich ebenso für das Stück und wird weitestgehend erfüllt bis hier.

Besonders gelungen: Eine schmierenkomödiantische Adaption der Maria Stuart – Konstellation. Der bekannte Showdown aus Schillers Meisterwerk, Liz gegen Maria, die eine hat die Macht, die andere den Stolz. Unschwer zu erraten, wie die Flaggen verteilt sind. Ahistorisch gewinnt der Osten im Keif-Duell, und im Saal brandet Jubel auf, der wie ich fürchte nur zum Teil der schauspielerischen Leistung der Damen Stübiger und Freudenberg gilt. Allein dies illustriert besser die Gefühlswelt hierzulande als alle soziologischen Aufsätze zu diesem Thema. (Wobei ich nicht der Ansicht bin, daß diese Larmoyanz und das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, irgend etwas entschuldigt, aber das führt hier zu weit.)

Was ebenfalls deutlich zu weit geht, ist die unreflektierte Wiedergabe von Honeckers Rechtfertigungs-Poem vor Gericht. Dabei fängt das so gut an, das Sandmännchen kommt mit dem Hubschrauber, der Figur entsteigt Viktor Tremmel, stellt sich an die Bühnenkante und rezitiert ohne äußerliche Regung. Aber dieser verquaste Blödsinn des altersstarren Staats- und Parteichefs i.L. hat auf der Bühne nichts zu suchen, auch wenn einige Sätze natürlich bedenkenswert und diskutabel sind. In diesem Stück aber hat das keinen Sinn (nicht „macht keinen Sinn“, liebe Wessis), wenn man sich dazu nicht verhält. So kommt es wie befürchtet: Selbst dieser Quark wird – wenn auch spärlich – beklatscht. Ein Riss geht durch den Saal, immer noch und vielleicht auch dauerhaft.

Der Schluss dann wie bekannt, die Serie wird abgesetzt, Zensur funktioniert über Geld genauso, die Nude-Ossis machen einen FKK-Tag indoor (es wendet sich der Berichterstatter mit Grausen), die Familien Steinheim und Grimm kommen sich dennoch leicht näher, Anton Steinheim empört sich und hat was gelernt.

Wie schon geschrieben: Ein an sich sehenswertes und gelungenes Stück, ein übler Missgriff wertet es jedoch leider ab.
Sandro Zimmermann - 10. September 2018
ID 10902
WIR SIND AUCH NUR EIN VOLK (Kleines Haus 1, 08.09.2018)
nach den gleichnamigen Drehbüchern von Jurek Becker
Bühnenfassung von Kerstin Behrens und Tom Kühnel

Regie: Tom Kühnel
Bühne: Maria-Alice Bahra
Kostüme: Ulrike Gutbrod
Musik: Matthias Trippner
Video und Live-Kamera: Bert Zander
Licht: Richard Messerschmidt
Dramaturgie: Kerstin Behrens
Besetzung:
Benno Grimm ... Holger Hübner
Trude Grimm ... Nadja Stübiger
Theo Grimm ... Philipp Grimm
Karl Blauhorn ... Thomas Neumann
Anton Steinheim ... Thomas Eisen
Lucie Steinheim, Steffi Blauhorn und Isolde Moll ... Betty Freudenberg
Harry Blauhorn, Langhans und Vogel-Storck ... Moritz Dürr
Eugen Meister und Moderator ... Viktor Tremmel
Premiere am Staatsschauspiel Dresden: 8. September 2018
Weitere Termine: 11., 14., 26.09. / 12., 28.10.2018


Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsschauspiel-dresden.de


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