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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Multimedial

verdichtet



Bernd-Michael Beier als Vater am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold

Bewertung:    



Über Demenz ist in den letzten Jahren sehr viel geschrieben worden. Das Thema ist dennoch in der Gesellschaft nicht wirklich präsent. Besonders nicht aus der Sicht der Erkrankten. Wenn dann nur in der Reflexion der Angehörigen, die sich im Umgang mit den Erkrankten meist überfordert fühlen. Der 2011 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Roman Der alte König im Exil von Arno Geiger ist so ein Buch. Der österreichische Autor beschreibt darin den schwierigen Umgang seiner Familie mit dem an Demenz erkrankten Vater. Neben allgemeinen Ängsten wären aber auch Momente des Glücks und der Freude möglich gewesen. Etwas anders geht der französische Dramatiker Florian Zeller (42) in seinem preisgekrönten Theaterstück Vater die Problematik an. Er entwickelt die Geschichte konsequent aus der Sicht des ebenfalls an Demenz erkrankten ehemaligen Ingenieurs André.

Auch André wirkt wie ein kleiner König in seinem eigenen Reich. Die Wirklichkeit geht ihm nach und nach verloren. „Ich habe das Gefühl, dass ich alle meine Blätter verliere, eins nach dem andern“, beschreibt André einmal ganz bildlich seine Situation. Auch seine unmittelbaren Bezugspersonen wie die Tochter Anne und ihr Mann Pierre verschwinden dabei immer mehr. „Als hätte ich kleine Löcher.“ Ein Mann wird langsam wieder zum Kind, lässt sich vor Erschöpfung von der Tochter in den Schlaf singen und ruft schließlich nach seiner Mutter. Im Stück sind das sehr eindrückliche Momente großer Verwirrung, Verzweiflung aber immer wieder auch situativer Komik.

*

Regisseur Tilo Krügel, selbst auch Schauspieler am Schauspiel Leipzig, hat sich bereits länger mit dem Thema Demenz beschäftigt und sich ganz bewusst Zellers Stück für seine Inszenierung in der Spielstätte Diskothek ausgewählt. Nach über einem Jahr Corona-Wartezeit konnte die Premiere nun endlich vor Publikum stattfinden. Der Stücktext ist nicht geradlinig, sondern in Rücksprüngen und Wiederholungen geschrieben. Tilo Krügel hat ihn weiter gestrafft und das Personal auf vier Personen gestrichen, was die Situation des sich langsam verlierenden André noch verwirrender erscheinen lässt. Das Publikum sitzt in der fast leergeräumten Diskothek, während die DarstellerInnen von verschiedenen Seiten auftreten und sogar die Gitterrostebene des Schnürbodens nutzen, was vollste Konzentration beim Verfolgen der kurzen, aneinandergereihten Szenenfolgen abverlangt.

Am Beginn steht ein kurzer Ausschnitt aus einer Radio-Lesung mit Hermann Hesse aus dem Jahr 1949, in dem der Autor über das Glück und das Erinnern der Kindheit spricht. Erinnerung ist ja bekanntlich oft trügerisch, aber am stärksten würde man Glück wohl immer als Kind empfinden. Selbst wenn André als eine Art Running Gag immer wieder seine Uhr vermisst und nicht weiß, wo sie ist, erinnert er doch stark Momente aus seinem früheren Leben, die Beziehung zu seiner Frau, nicht immer sehr schmeichelhaft, und den Töchtern, besonders zur abwesenden Tochter Elise, die große Leerstelle des Stücks, während er Tochter Anna das Leben mit Verdächtigungen schwer macht.

Der 73-jährige Schauspieler Bernd-Michael Baier schafft es diese recht typischen Verhaltensweisen eines Demenzkranken sehr glaubhaft und unprätentiös rüberzubringen. Als traumvergessener Dirigent sitzt André in seinem Sessel und überspielt gekonnt und sympathisch seine Erinnerungslücken. Charmant setzt er sich gegenüber der Pflegerin Laura (Julia Zabolitzki) in Szene, oder weißt andere brüsk zurück, versucht seine überforderte Tochter Anna (Anna Keil) zu manipulieren, gerät aber auch in Bedrängnis, wenn er es mit dem weniger verständnisvollen Pierre (Thomas Braungardt) zu tun bekommt. Dann regieren ihn Unsicherheiten und Angstzustände, die bis zum hysterischen Anfall führen können. Nervös legt er seine Sachen zusammen, ringt um Struktur und Selbstsicherheit.

Der Einsatz von Soundcollagen und flächigen Videoüberblendungen verdichtet die Szenen zu einem kognitiven Gewittersturm im Hirn. Die farblich ähnlichen, aufeinander abgestimmten Kostüme der DarstellerInnen, Textwiederholungen und die Verteilung auf nur drei weitere Personen sorgen für zusätzliche Verunsicherung und machen die Zustände Andrés für das Publikum erfahrbar. Ein über 90 Minuten spannender und durch den gekonnten Multimediaeinsatz auch künstlerisch starker Abend.



Vater am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold

Stefan Bock - 7. Juli 2021
ID 13023
VATER (Diskothek, 03.07.2021)
von Florian Zeller

Regie: Tilo Krügel
Bühne und Kostüme: Agathe MacQueen
Video: Kai Schadeberg
Sound: Alexander Nemitz
Licht: Sebastian Elster
Dramaturgie: Matthias Döpke
Theaterpädagogische Betreuung: Babette Büchele
Mit: Bernd-Michael Baier (als André), Thomas Braungardt (als Pierre), Anna Keil (als Anne) und Julia Zabolitzki (als Laura)
Uraufführung im Pariser Théâtre Hébertot: 11. September 2012
Leipziger Premiere: 3. Juli 2021
Weiterer Termin: 10.07.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-leipzig.de/


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