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Premierenkritik

Die Zeit und

die Gewalt



Heilig Abend von Daniel Kehlmann an den Schauspielbühnen in Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund

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Das Alte Schauspielhaus in Stuttgart ist bei wechselnden Intendanzen seit Jahrzehnten die Zufluchtsstätte für ein Publikum, das sich geliebte Dramen nicht durch eine experimentelle Regie (in seinem Verständnis) versauen lassen möchte. Der Spielplan vermeidet wie die unter der selben Leitung stehende Komödie im Marquardt alles, was die Zuschauer überfordern könnte. Daniel Kehlmann, der einst selbst durch seine Salzburger Philippika gegen das so genannte Regietheater Aufsehen erregt hat, ist da eher schon ein Wagnis.

Der erfolgreiche Schriftsteller, der aussieht wie ein Doppelgänger des Juso-Bundesvorsitzenden Kevin Kühnert, orientiert sich als Dramatiker eher am Londoner Westend als an Heiner Müller oder Elfriede Jelinek. Mit Zeitgenossen wie Ferdinand von Schirach hat er gemeinsam, dass er ein aktuelles, in den Medien diskutiertes Thema findet, das er dann kontrovers diskutiert. Heilig Abend, vor drei Jahren in Wien uraufgeführt, lässt sich mit der Genrebezeichnung Debattenstück unmissverständlich charakterisieren. Sie rückt es in die Nähe der allerdings weitaus komplexeren Gerechten von Albert Camus. Solch ein Kammerspiel ist von der Qualität der Dialoge abhängig. Kehlmann erfüllt in dieser Beziehung die höchsten Erwartungen, und die Regisseurin Eva Hosemann, sagen wir es gleich, lässt sie mit jener nur an den richtigen Stellen angehaltenen Schnelligkeit sprechen, die sie erst so recht zur Geltung bringen. Ansonsten setzt sie auf Minimalismus und reduzierten Positionswechsel. Im Mittelpunkt steht das Wort.

Heilig Abend ist ein Zweipersonenstück, in dem, begleitet von einer digitalen Zeitanzeige an der Wand, eine des Terrorismus verdächtigte Philosophieprofessorin, die sich über Frantz Fanon habilitiert hat, in gegenüber der Realzeit um gut zweieinhalb Stunden versetzter Echtzeit von einem Polizisten verhört wird. Nun ist ein Verhör – man denke etwa an John Hopkins‘ Diese Geschichte von Ihnen – ebenso wie eine Gerichtsverhandlung strukturell an sich schon eine Situation des Dramas (jedenfalls des Dramas, als es noch nicht post war). Ein Protagonist und ein Antagonist treffen auf einander und fechten es mit Worten, in älteren Dramen manchmal auch im buchstäblichen Sinn, nämlich mit Degen oder Säbel aus. Die Spannung gewinnt, wenn sich die Argumente – lässt sich Gewalt rechtfertigen? sind nicht Hunger und Armut eine größere Gefahr für die Welt als ein paar religiöse Fanatiker? – und die Schauspieler, die sie vorbringen, auf gleicher Höhe befinden. Das ist bei Kehlmanns Text und bei Lisa Wildmann versus Robert Besta der Fall. Lisa Wildmann spielt die Judith selbstbewusst, ein wenig arrogant, als die Intellektuelle gegen den keineswegs dummen Polizisten, der freilich das einschüchternde Argument der Waffe am Schultergurt trägt. Er hat ihre Habilschrift gelesen und auch verstanden, fand sie aber langweilig. Der Schlagabtausch hängt keine Sekunde durch, und beide Seiten haben ihre Logik. Das unterscheidet Kehlmanns Kontroverse von der parteiischen Geschichte von Ihnen und von deren anklagendem Impetus. Kehlmanns Polizist wäre für die Verhörte „unter anderen Umständen“ „ein interessanter Mensch, mit dem man eine Debatte führen kann“. Kein Gegner also, sondern ein Gegenüber, das nur von den Umständen gehindert wird, eine Debatte zu führen. Ironie der Aussage: genau diese Debatte konstituiert Heilig Abend.

In einer Selbstinterpretation, ohne die Theater offenbar nicht mehr möglich ist, erklärt Daniel Kehlmann: „‘High Noon‘ ist einer der wenigen perfekten Filme – nicht zuletzt weil er in Echtzeit stattfindet, weil in ihm die erzählte Zeit und die Zeit, in der der Film selbst vergeht, auf die Sekunde identisch sind. So etwas wollte ich auch machen, immer schon. Das war der eine Antrieb zu ‚Heilig Abend‘: die Idee von einer Uhr an der Wand, deren Zeiger sich auf den entscheidenden Moment zu bewegen, offen und groß, im Blickfeld der Bühnenfiguren wie des Publikums.“ Na ja, ganz so einmalig ist die Technik von High Noon nicht. Agnès Varda hat sie in Cléo de 5 à 7 perfektioniert, und Filme wie Theaterstücke, die in Echtzeit spielen und das fallweise durch Uhren sichtbar machen, gibt es jede Menge. Zum Beispiel Hitchcocks Rope (Cocktail für eine Leiche) und das zugrunde liegende Theaterstück von Patrick Hamilton, Russian Ark von Alexander Sokurow, die Fernsehserie 24 oder das Einpersonenstück Wunschkonzert von Franz Xaver Kroetz. In der Dresdner Oper zeigt eine Uhr oberhalb der Bühne alle fünf Minuten die genaue Zeit an und zwingt die Zuschauer, die Realzeit unwillkürlich mit dem Zeitverlauf der Handlung zu vergleichen. Sei‘s drum. Die Echtzeit-Fiktion ist im Theater wie im Film ein Mittel der Spannungserzeugung. Um Mitternacht endet der Heilige Abend, an dem die Bombe, wenn es sie denn gibt, explodieren soll. Und der Heilige Abend verleiht Kehlmanns Stück schließlich den Titel. Freue dich, Christkind kommt bald!



Heilig Abend im Alten Schauspielhaus Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund

Thomas Rothschild - 17. Oktober 2020
ID 12535
HEILIG ABEND (Altes Schauspielhaus, 16.10.2020)
Regie: Eva Hosemann
Bühne und Kostüme: Tom Grasshof
Dramaturgie: Annette Weinmann
Mit: Robert Besta und Lisa Wildmann
Uraufführung im Wiener Theater in der Josefstadt: 2. Februar 2017
Premiere an den Schauspielbühnen in Stuttgart: 16. Oktober 2020
Weitere Termine: bis 15.11.2020
Eine Kooperation mit den "Stuttgarter Kriminächten"


Weitere Infos siehe auch: https://schauspielbuehnen.de


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