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Premierenkritik

Sterbens-

langweilig



Die Möglichkeit einer Insel (nach Michel Houellebecqs gleichnamigem Roman) am BE | Foto (C) JR Berliner Ensemble

Bewertung:    



Kennt man einen, kennt man alle. So könnte man grob die Romane des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq beschreiben. Es geht fast immer um einen heterosexuellen, männlichen Protagonisten mittleren Alters, der über sein Leben im Speziellen und die Gesellschaft im Allgemeinen philosophiert. Im Grunde dreht es sich dabei aber vor allem um die Vergänglichkeit des Körpers, fehlende Liebe, Sex und die Unmöglichkeit von dauerhaften Paarbeziehungen. Das alles geschrieben in einem recht provokanten Ton, der vor der Herabwürdigung von Frauen als Sexobjekte und politisch unkorrekten bis reaktionären Anspielungen, meist gegen Muslime, nicht zurückschreckt.

So auch in dem 2005 erschienen Roman Die Möglichkeit einer Insel, den Autor Houellebecq für einen seiner wichtigsten hält und sogar selbst verfilmt hat. Im Buch ist dann auch ein Comedian, Drehbuchautor und Filmemacher die Hauptperson. Jener Daniel hat mit politisch provokanten Sketchen und Filmen à la „Am liebsten Gruppensex mit Palästinenserinnen“ oder „Grasen am Gazastreifen“ viel Geld gemacht. Nach einer ersten für ihn nicht wichtigen Beziehung lernt er bei einem Interview die Journalistin Isabelle, Chefredakteurin des Teenagermagazins „Lolita“, kennen und verliebt sich in die Intelligenz und natürlich den Körper der schönen Frau. Diese Beziehung geht allerdings nach dem beginnenden körperlichen Verfall Isabelles in die Brüche. Sie verlässt Daniel, weil sie ihm ihren alternden Körper nicht mehr zumuten möchte, und zieht zu ihrer Mutter.

Daraufhin lernt Daniel bei der Vorbereitung eines Filmprojekts die 22jährige spanische Schauspielerin Esther kennen. Er verlebt mir ihr eine Zeit der sexuellen Ausschweifung und Erfüllung, bis er selbst als alternder Mann von Esther verstoßen wird und sich deprimiert das Leben nimmt. Der Witz an der Sache ist aber, dass Daniel auch Mitglied der esoterischen Wissenschafts-Sekte der Elohimiten geworden ist, die durch Klonen die Unsterblichkeit erlangen wollen. Das Buch ist also auch eine Art Science-Fiction, der aus dem fernen dystopischen Zeitalten der geklonten und empfindungslosen Neo-Menschen, auf die heutige Zeit zurückblickt. Die Klone Daniel 24 und 25 lesen 2000 Jahre später die Lebens-Chronik ihres Prototypen und kommentieren diese aus ihrer Sicht.

*

Aus dieser zum Teil doch etwas trockenen und larmoyanten Erzählprosa einen interessanten Theaterabend zu bauen, stellt schon eine gewisse Herausforderung dar. Haben sich Falk Richter mit dem neusten Roman Serotonin und Ivan Panteleev mit dessen Erstling Ausweitung der Kampfzone noch ironisch vom Autor und seinen Aussagen distanziert, so geht Robert Borgmann am Berliner Ensemble doch einen anderen Weg. Er scheint zumindest ernstlich am Dauerthema Houellebecqs, dem Altern, interessiert zu sein. Borgmann lässt dann auch zunächst den sterbenden Klon Daniel 24 (Wolfgang Michael) auftreten, der stockend sprechend auf sein ereignisloses Leben zurückschaut. Er kann die Berichte des Daniel 1 von den Leiden der Menschen auf der Suche nach der bedingungslosen Liebe als Voraussetzung des Glücks zwar noch nachvollziehen, aber nicht mehr nachempfinden. Michael zieht eine leere Leine hinter sich her, da die Klone, die allein zum Schutz vor den Horden wilder Restmenschen in abgegrenzten Ressorts leben, auch einen geklonten Hund besitzen.

Borgmann hat auch das Bühnenbild geschaffen. Ein von weißen Vorhängen, die sich vorn und hinten öffnen und senken, umgrenzte, sonst leere Spielfläche, auf der sich noch eine Zimmerwandecke mit einem Stoff-Pandabären befindet. Am Bühnenhintergrund ist ein Bild mit Seeufer zu sehen, und von der Decke hängt ein riesiger kitschiger Glockenblumenzweig, als wäre es eine Parodie auf Jeff Koons. Ein junges Mädchen geht hin und wieder stumm auf die Bühne oder setzt sich in die Ecke. Über dem Bühnenportal hängt eine Leuchtschrift „l‘éternité“ (Ewigkeit). Bedeutungsschwanger und düster auch der Auftritt der Klonfrau Marie 23 (Constanze Becker), die aus der Rangloge spricht. Im Roman chattet sie mit Daniel 25 im Internet, die einzige Form von Kommunikation der Neo-Menschen.

Die fast durchweg depressive Stimmung in Houellebecqs Roman versucht Borgmann dann durch etwas Bühnenklamauk aufzulockern, bei dem Sina Martens und Gerrit Jansen als in Pink gekleidetes Clownsduo auftreten und als Elohimiten vom genetischen Verbessern des fehlerhaften Menschen schwafeln. Jansen hält dann noch als Künstler Vincent mit Peter Moltzen als Daniel 1 einen aus den Rollen aussteigenden ironischen Kunstdiskurs, der im Roman auch so ähnlich angelegt ist. Das eigene Medium Theater und Performance, Beuys‘ soziale Plastik und der Künstler als Revolutionär oder Dekorateur werden dabei kräftig und lautstark durch den Kakao gezogen.

Bis zur Pause weiß man nicht wirklich, worum es Borgmann in seiner recht uninspirierten Inszenierung eigentlich geht. Die Figur oder besser Persönlichkeit des Daniel 1 erfährt keinerlei Entwicklung. Im Roman ergibt sich die aus den fortgesetzten Berichten und den Kommentaren der Klone. Borgmann streicht so ziemlich alles, was diesen Daniel eigentlich antreibt. Er beschränkt sich auf ein paar Dialoge mit den beiden Frauen in Daniels Leben. Man versteht hier aber weder, warum ihn seine erste Frau Isabell (Constanze Becker) verlassen hat, obwohl er sie doch liebt, noch was ihn an Esther (BE-Neuzugang Cynthia Micas) interessiert, dass er sich in sie verliebt. Borgmann lässt das Wichtigste weg - Körperlichkeit und Sex, die im Roman ja ausführlich ausgelebt und beschrieben werden. Hier gibt es lediglich im zweiten Teil die Erzählung einer Sex-Party.

Nur wie denkt der Autor Liebe, Glück, Sex und Alter zusammen? Darüber erfährt man hier nur in einem großen Gefühlsausbruch von Moltzen. Aber wenn das so beiläufig erwähnt wird und sonst die Klone wie Zombies über die Bühne laufen, wird kaum klar, was da schiefläuft. Die hanebüchene Sektengeschichte der Elohimiten fällt fast komplett unter den Tisch. Dass der Künstler Vincent später nach dem Mord am Propheten als behaupteter erster Klon die Führung der Sekte übernimmt, ist hier sicher auch nicht erheblich. Wolfgang Michael als alter Prophet spricht dann nach der Pause noch in SS-Uniform einen Wahnsinns-Fremdtext, der sich als zentraler Höhepunkt aufbaut. Eine Ansage ans Publikum, auf der Suche nach Wahrheit den eigenen Bildern, Religionen und Ideologien nicht zu trauen. Gegen jede Gewissheit und Eitelkeit. Das hat dann aber mit dem Rest der Inszenierung kaum etwas tun. Die plätschert weiter ziemlich fad und in surrealen Bildern bis zum Ausbruch von Daniel 25 (Jonathan Kempf) auf der Suche nach besagter Möglichkeit einer Insel der Liebe in der zerstörten Umwelt dahin. Gegen alle Obsessionen des Autors wird es am Ende doch nur sterbenslangweilig.



Die Möglichkeit einer Insel am BE | Foto (C) JR Berliner Ensemble

Stefan Bock - 11. Oktober 2019
ID 11739
DIE MÖGLICHKEIT EINER INSEL (Berliner Ensemble, 09.10.2019)
nach Michel Houellebecq

Regie/Bühne: Robert Borgmann
Kostüme: Bettina Werner
Musik: Rashad Becker
Licht/Video: Carsten Rüger
Dramaturgie: Amely Joana Haag
Mit: Constanze Becker, Gerrit Jansen, Jonathan Kempf, Sina Martens, Cynthia Micas, Wolfgang Michael und Peter Moltzen
Premiere war am 9. Oktober 2019.
Weitere Termine: 19., 20., 26., 27.10 / 13., 14.11.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.berliner-ensemble.de


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