Ein X für
einen Frayn
vormachen
DER NACKTE WAHNSINN am Staatsschauspiel Dresden
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Bewertung:
Der nackte Wahnsinn (Noises Off) von 1982 ist eine der erfolgreichsten Komödien der vergangenen Jahrzehnte. Michael Frayn, der immerhin auch Tschechow übersetzt und in einer Weise diskret bearbeitet hat, die meilenweit von der Selbstüberschätzung gegenwärtiger „Übermaler“ entfernt ist, versteht sein Handwerk und hat die Techniken des Boulevards bei Feydeau, Labiche und Lubitsch abgeschaut. Der nackte Wahnsinn wurde nicht nur an den einschlägigen Theatern der seichteren Unterhaltung, sondern auch an großen Bühnen und von namhaften Regisseuren inszeniert. Unter der Oberfläche des Tür-auf-Tür-zu handelt das Stück in einer gewitzten Doppelperspektive, selbstreflexiv, von Eitelkeiten und Missgeschicken vor und hinter den Kulissen und somit von dem, was Theater ausmacht: der Täuschung.
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Dass sich Sebastian Hartmann nicht treu an den Text halten würde, durfte man erwarten. Aber Frayns Stück hat ihn offenbar überhaupt nicht interessiert. Die Zuschauer wurden immerhin subtil gewarnt. Angekündigt ist Der nackte Wahnsinn + X. Geblieben ist davon nur X. Vom Nackten Wahnsinn ist nicht einmal mehr eine Ahnung vorhanden.
Nun muss man die sehr britische Form des well-made play im Allgemeinen und das tiefsinnige Boulevardstück Der nackte Wahnsinn im Besonderen nicht mögen. Aber muss man es dann zu inszenieren vorgeben? Was bei Hartmann geblieben oder vielmehr an die Stelle von Michael Frayns schlauer Konstruktion getreten ist, das X, ließe sich als surreale Nummernrevue beschreiben. Auch damit könnte man sich noch abfinden, wenn dabei etwas Sehenswertes herauskäme. Aber die Nummern sind gerade komisch genug, um die Schauspielerkolleginnen im Publikum zum ostentativ schallenden Gelächter zu ermuntern, und erinnern penetrant an zahllose Performances, die seit ein paar Jahren die Dramatik verdrängen. Der leitmotivisch aufgebaute und wieder demontierte Schriftzug SINN ist, wir haben es begriffen, Programm.
Es beginnt mit einer endlos erscheinenden Solonummer von Torsten Ranft im Kostüm eines Clowns. Es folgen unter anderem ein Saurier, der, zeitgerecht, hustet und sich in seinem Kostüm verwickelt, eine Frau demonstriert den Reiz der Repetition (im doppelten Sinne), indem sie sich pausenlos über die Lehne und die Sitzfläche eines Sofas wälzt, eine andere zieht sich ein Pinguinkostüm über das rosafarbene Kleid und die passende Federboa und spielt am Klavier "Fuchs, du hast die Gans gestohlen" und, unbekümmert um das Bühnengeschehen, wonach wir uns seit langem gesehnt haben: Videos als Garnitur. Ein Darsteller sieht entfernt wie Groucho Marx aus, verhält sich aber zu diesem wie Donald Trump zu Churchill. Nicht einmal eine schlechte Kopie. Das Komischste an diesem Abend kam aus dem Archiv: ein Film mit einem „singing monkey“.
Es endet, wie es begonnen hat: mit einem nicht enden wollenden Monolog. Diesmal darf ihn Cordelia Wege sprechen. Er enttarnt sich als Verschnitt von Sprachspielen im Stil der Wiener Gruppe. Was hätte Herbert Fritsch daraus gemacht! In Dresden berauscht sich Sebastian Hartmann an den technischen Möglichkeiten der Kamera. Der nackte Wahnsinn.
Schade. Die durchweg routinierten Schauspielerinnen und Schauspieler verschleudern ihr komödiantisches Talent unter Wert an ein X der Beliebigkeit. Ein einsames Buh mischte sich in den anhaltenden Premierenapplaus.
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Thomas Rothschild - 17. September 2020 ID 12467
DER NACKTE WAHNSINN + X (Schauspielhaus, 16.09.2020)
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Musik: Samuel Wiese
Video: Christian Rabending
Animation: Tilo Baumgärtel
Licht: Andreas Barkleit
Dramaturgie: Jörg Bochow
Mit: Nadja Stübiger, Luise Aschenbrenner, Yassin Trabelsi, Ursula Hobmair, Viktor Tremmel, Torsten Ranft, Eva Hüster, Philipp Lux und Cordelia Wege sowie Samuel Wiese (Live-Musik) und Christian Rabending (Live-Kamera)
Premiere am Staatsschauspiel Dresden: 16. September 2020
Weitere Termine: 17., 26., 27.09. / 11., 12., 22., 23.10.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsschauspiel-dresden.de/
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