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Premierenkritik

Nicht wirklich

aus der Ruhe

gebracht



Alles unter Kontrolle am Maxim Gorki Theater | Foto (C) Esra Rotthoff

Bewertung:    



In seinem neuen Theaterabend Alles unter Kontrolle möchte der bosnisch-kroatische Theaterregisseur Oliver Frljić das gesamte Maxim Gorki Theater in den Ausnahmezustand versetzten. Das Publikum begibt sich dazu in Gruppen von 10 Personen auf einen geführten Performance-Parcours kreuz und quer durch das Haus. An für jede Gruppe individuell zusammengestellten 7 Stationen geht es gemäß Walter Benjamins Gedanken „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht“ um die Frage nach Normalität und Ausnahme, nach Fiktion und Realität. Ein Theater im Ausnahmezustand, stellvertretend für die neoliberale Gesellschaft, die das zur Normalität erklärt hat. „Es ist alles unter Kontrolle. Folgen Sie den Anweisungen des Personals“, heißt es immer wieder nach 10 Minuten, bevor sich der Wechsel zur nächsten Station vollzieht. Doch ist es das wirklich, oder hat man hier nicht schon längst die Kontrolle verloren?

Das herauszubekommen ist sicher eine der Aufgaben an das Publikum, das an jeder Station an mit Nummern vorbestimmten Plätzen Aufstellung nimmt und den jeweiligen SchauspielerInnen in Boxen hinter transparenten Plastikfolien beim Performen zusieht. Das ist natürlich in erster Linie der Pandemie geschuldet, hat aber auch etwas von Peepshow. Allerdings muss hier auch den Blicken aus den Boxen standgehalten werden, die mitunter doch sehr direkt und intensiv sind. Die Kontrolle zu behalten, bleibt dennoch relativ einfach, geht das Spiel doch nie über die normalen Grenzen hinaus. Die vierte Wand bleibt bestehen, auch wenn im Programmheft mit 30 aufgezählten Stationen einige das interaktive Mittun des Publikums suggerieren. Aber auch das sicher nur ein Versuch der Verunsicherung des Publikums, das eher um die Wahrung der Kontrolle bemüht sein dürfte.

Es ist ein Spiel, das sich, wie sooft im Gorki, meist um die Art der Darstellung selbst dreht. Also die eigenen Mittel zur Herstellung von Kunst bespiegelt, was auch einmal recht wörtlich genommen wird, wenn im Theatersaal die weiße Schauspielerin Lea Draeger, die sich zuvor den weißen Schaum eines geschälten Schokokusses ins Gesicht geschmiert hat, der schwarzen Schauspielerin Abak Safaei-Rad nur getrennt durch einen Spiegel gegenübersteht. Sicher auch eine Anspielung auf das sogenannte Blackfacing von weißen DarstellerInnen, das sich hier umkehrt zum Whitewashing. Beides durchaus aktuelle Themen im postkolonialen Diskurs nicht nur am Theater.

Aber nicht immer erschließen sich die Situationen sofort. Ausgehend vom sogenannten Notstandsartikel 48 der Weimarer Verfassung, der dem Reichspräsidenten weitreichende Möglichkeiten zur Regierung im Ausnahmezustand zugestand, wird die demokratische Krise als Normalzustand beschrieben. Die Folge war die willkürliche Einsetzung von Reichskanzlern durch Paul von Hindenburg, was einer quasi Abschaffung der Parlamentsgewalt gleichkam und schließlich Adolf Hitler an die Macht verhalf. In der folgenden Performance tigert Dominic Hartmann als personifizierter Ausnahmezustand in Drag durch seine Box und haspelt im Schnelldurchlauf die Krisen der modernen Gesellschaft von der französischen Revolution bis zu den Kriegen des 20. Jahrhundert herunter. Heute bestehen die Krisen aus Finanzcrashs, Umweltverschmutzung und globalisierter Vernetzung, was natürlich auch Verteilungskämpfe zwischen Ost und West (Putin versus Biden) nach sich zieht, die aber meist woanders als in Europa ausgefochten werden. Ein Immer-weiter-so, wie es Hartmann hier beschwört, kann es aber auf Dauer nicht geben.

Weiter Stationen befassen sich mit der „Hölle der Repräsentation“, in der sich die palästinensische Schauspielerin Maryam Abu Khaled in einer Art Verhör einer Theaterpolizei gegenüber sieht und des theatralen Verbrechens, sie selbst auf der Bühne zu sein, bezichtigt wird, was sich irgendwann dann plötzlich umdreht und gegen den Verhörenden selbst richtet. In „Zombies“ berichten die Schauspielerinnen Kenda Hmeidan und Hanh Mai Thi Tran von den Realitäten am Theater. Wer macht was und wird wie dafür bezahlt. Eine Art Selbstbezichtigung des Regisseurs durch die Blume. Man kann das auch als Aussaugen des künstlerischen Potentials anderer bezeichnen. Die Ausbeutung der eigenen Biografie war schon Thema in Ersan Mondtags Gorki-Inszenierung Its going to get worse.

Wirklich schlimmer wird es hier nicht mehr. Das provokative Potential von Frljić‘ Aufführung ist sehr begrenzt. Auch die schmalen „Analytischen Cookies“ von Theater-Bäcker Mehmet Yılmaz helfen da nicht wirklich zur Retrospektive des Abends. Außer dass sich der Kritiker mal bei der Arbeit gefilmt sehen kann. Und dass man am Ende in den Rang hinaufsteigen muss, um beim Draufsehen auf das Treiben unten im Parkett eine weitere gedankliche Metaebene eingezogen zu bekommen, kann einen dann auch beim besten Willen nicht mehr wirklich aus der Ruhe bringen. Alles unter Kontrolle.
Stefan Bock - 17. Juni 2021
ID 12980
ALLES UNTER KONTROLLE (Maxim Gorki Theater, 16.06.2021)
Regie: Oliver Frljić
Bühne/Kostüme: Igor Pauška
Dramaturgie: Johannes Kirsten
Musik: Daniel Regenberg
Mit: Maryam Abu Khaled, Emre Aksızoğlu, Lea Draeger, Dominic Hartmann, Kenda Hmeidan, Kinan Hmeidan, Abak Safaei-Rad, Hanh Mai Thi Tran und Mehmet Yılmaz
Premiere war am 16. Juni 2021.
Weitere Termine: 17.-20.06.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.gorki.de/


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