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Zoom-Konferenz

Wahnsinniger Computernerd

erliegt digitalem Mindfuck

DER SANDMANN nach der Erzählung von E.T.A. Hoffmann in einer Fassung von Alexander Nerlich - für die Digitale Bühne am Stadttheater Ingolstadt

Bewertung:    



Dass die nun bereits über ein Jahr anhaltende Corona-Pandemie mit ständigen Lockdowns und der Vereinsamung im Homeoffice zu psychischen Krisen führen kann, ist bekannt und nicht das erste Mal auch Thema von Online-Theateraufführungen. Die Zoom-Konferenz als Mittel, um die gebotene körperliche Distanz zu überbrücken, ist auch ein probates Mittel der geschlossenen Bühnen, dass sie ihr daheim darbendes Publikum erreichen.

Für das Stadttheater Ingolstadt hat der Regisseur Alexander Nerlich eine Zoom-Fassung mit der Schauergeschichte Der Sandmann (nach E.T.A. Hoffmann) als Livestream entwickelt. Aus dem durch ein Kindheitstrauma und dem wachsenden Realitätsverlust dem Wahn verfallenden Physikstudenten Nathanael ist in Nerlichs Fassung ein moderner Computernerd im Homeoffice geworden. Hoffmanns Wissenschafts- und Technikkritik passt recht gut in die Coronazeit.

Nerlich ist als Regisseur auch bekannt für seine meist recht düsteren Zugriffe auf klassische Stoffe. Am Potsdamer Hans Otto Theater (u.a. Peer Gynt, Das goldene Vlies) hat er sich über einige Spielzeiten damit einen Namen gemacht. E.T.A. Hoffmanns Schauerroman Der Sandmann dürfte da also genau auf dieser Welle liegen. Eine Geschichte zwischen Wirklichkeit und Einbildung, gesundem Menschenverstand und Wahnsinn, Normalität und Abartigkeit. Das Thema Wissenschaft mit dem Maschinenmenschen und das alte Ammenmärchen vom Sandmann mit der irrationalen Angst des Protagonisten sein Augenlicht zu verlieren, bilden hier den Spannungsbogen und zwei gegensätzliche Motive, die zwischen Ratio, Gefühl und Wahn chargieren. Aufklärung gegen Romantik, auch das ein interessanter Gegensatz. Sogar bis in Freuds Traumdeutung hinein hat es Der Sandmann geschafft.

Sehr psychologisch motiviert ist die Inszenierung im Zoom-Modus dann aber doch nicht, eher psychopathologisch - so setzt das Bühnenbild von Thea Hoffmann-Axthelm voll auf Klaustrophobie. In einem engen Zimmer mit Schreibtisch, Bett und Kochnische nebst noch engerer Sanitärzelle haust der Informatik-Student Nathanael. Der Bildschirm ist wie bei Zoom-Konferenzen üblich in mehrere (hier 4) Screens gesplittet. Alle Bereiche der Wohnung sind mit Kameras ausgerüstet. Péter Polgár als Nathanael tigert brabbelnd durch das Setting vom Schreibtisch mit Laptop, dessen Bildschirm man ebenfalls eingeblendet sieht, zum Bett, weiter ins Bad und wieder zurück. Er arbeitet an einem Computerprogramm für eine sogenannte Künstliche Intelligenz (KI): das Projekt „Olympia“, das nach der Puppe des Professors Spalanzani aus Hoffmanns Erzählung benannt ist.

Freundin Clara schaltet sich via Skype ins Geschehen. Blond gelockt erscheint Theresa Weihmayr, die Nerd Nathanael mit gutem Zureden in die Realität zurückholen will. Der erzählt allerdings von seinem Kindheitstrauma mit dem Sandmann, den er im Bekannten des Vaters, dem Advokaten und Hobbyalchemisten Coppelius (Jan Gebauer) vermutet. Sein Hirngespinst beginnt dabei immer mehr Realität zu werden und spukt bald in der strumpfbehosten langhaarigen Gestalt Es (ebenfalls Jan Gebauer) durch Zimmer und Bad. Ein paar Kameratricks mit Überblendungen und Greenscreen sorgen für etwas gruselige Atmosphäre. Mit einem „Bin ich irre?“ beginnt Nathanael an sich und seiner Wahrnehmung zu zweifeln. Das vereinfacht den komplexeren Hoffmannplot allerdings recht stark.

Von einigen Handlungsträgern und -strängen der Geschichte befreit kommt Nerlichs Sandmann innerhalb der ca. 80 Minuten relativ schnell zum Punkt. Ein vor der Wohnungstür liegendes Paket enthält eine Tastkonsole, mit der Nathanael einen Testlauf mit dem von Professor Spalanzani (Peter Reisser) im Video vorgestellten Prototyp Olympia beginnt. Er kommuniziert mit dem geschaffenen Computer-Avatar, was bis zu kleinen die Screens übergreifenden Tänzchen führt. Im Glitzeroverall vor galaktischem Hintergrund präsentiert sich nun Theresa Weihmayr als Computerliebe und programmierter Gefühls-Avatar. Dass das trotz schön designter Oberfläche nur ein einsamer Mindfuck ist, geht dem verzweifelten Nathanael schließlich auf. Ob das nun eine Fortschritts-Kritik, Kritik an der Krake Netz oder auch computergestützter Überwachung ist, kann man selbst für sich entscheiden.

Der verrückte Nerd verlässt nun Setting und Kulissen. Verwundert steht er auf der Bühne vor leeren Rängen, ein Bild, das prägend für die momentane, doch etwas schizophrene Situation der Theater ist. Was ist Spiel, was Wirklichkeit? Auch das eine doch recht ausgelutschte Selbstbespiegelung des Betriebs. Was unseren Hoffmann-Protagonisten nicht davon abhält, Hand an sich zu legen (wie im Roman).

Als Moral von der Geschicht könnte man nun u.a. mitnehmen, dass allzu häufiger Computergebrauch nicht nur die Realität verrückt, sondern auch die Gehirnzellen dauerhaft löscht.



Der Sandmann als Zoom-Konferenz aus dem Stadttheater Ingolstadt | (C) Theater Ingolstadt Screenshot

Stefan Bock - 16. April 2021
ID 12859
DER SANDMANN (Stadttheater Ingolstadt, 13.04.2021)
Regie: Alexander Nerlich
Bühnenbild: Thea Hoffmann-Axthelm
Kostümbild: Tine Becker
Choreografie: Cecilia Wretemark
Musik und Sound: Malte Preuss
Dramaturgie: Johann Pfeiffer
Mediendramaturgie: Paul Voigt
Video: Esteban Nuñez, Tobias Lange
Künstlerisch-technische Produktionsleitung: Manuela Weilguni
Theatervermittlung: Bernadette Wildegger
Besetzung:
Nathanael ... Péter Polgár
Clara/Olympia ... Theresa Weihmayr
Coppelius/Es ... Jan Gebauer
Vater/Professor Spalanzani ... Peter Reisser
Zoom-Premiere war am 10. April 2021.
Zoom-Konferenz auf theater.ingolstadt.de am 13.04.2021


Weitere Infos siehe auch: https://theater.ingolstadt.de/


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