Berührend
|
|
Bewertung:
Ansichts-Karten von gestern nach morgen ist der voll von Sinnbezügen steckende Titel einer berührenden Art Theaterperformance, in der die Regisseurin Susanne Chrudina und die Videokünstlerin Branka Pavlović mit Schülerinnen der Ernst-Haeckel-Oberschule in Berlin Hellersdorf versuchten, sich quasi „interaktiv“ den Überlebensberichten ehemaliger KZ-Insassen zu nähern und eine eigene Haltung zu deren Schicksalen zu formulieren. Die neun „spreeagenten“ sind auf Videos mit Interviews von Zeitzeugen gestoßen und haben dieses Material als Grundlage für eine biographische Auseinandersetzung genutzt. Jede hat sich dazu eine der berichtenden Personen ausgesucht, mit der sie szenisch-virtuell Kontakt aufnimmt. Vielleicht um so die unfassbare Dimension und Abstraktheit der Massenschicksale und katastrophalen Zahlen, die uns überliefert sind, in einen Ansatz konkreten Begreifens zu bringen. Dass Geschichte nicht einfach nur das ist, was mal war, sondern auch das, woher das Heute kommt und das im Heute weiter wirkt, das hat auf eindringliche Weise die agierenden Mädchen bewegt. Nicht nur „Jude“ zählt auf deutschen Schulhöfen wieder zu den häufigsten Schimpfwörtern, sondern auch „Hure“, „Nigger“, „Rote Socke“ und „schwule Sau“. Die Schülerinnen positionieren sich in persönlichen Statements gegen Fremdenhass, Vorurteile und Rassismus, den sie in der eigenen, jetzigen Gesellschaft wahrnehmen: Das „hilft uns auch für die heutige Zeit. Es wird ja immer populärer, rassistisch zu sein, es nimmt ja immer mehr zu, dass Menschen etwas gegen andere Nationen, gegen andere Kulturen haben“, sagt z.B. Emily. Sie haben diesen springenden Punkt ganz klar erkannt. Sie sprechen nicht nur von „Opfern der NS-Zeit“, sondern von Antifaschismus und dem Widerstand des Lebens gegen die industrielle Normalisierung von Ausgrenzung, Verfolgung, Entwürdigung, Leid und Sterben. Das Geheimnis ist die Würde: nur sie hilft, sich zu behaupten. Diese Würde beschwören die Mädchen im fiktiven Dialog mit den von ihnen ausgewählten Überlebenden des deutschen Faschismus. Als die Mädchen die Erzählung einer der toten Frauen von ihrer glücklichen, unbeschwerten Jugend mit Zöpfen und Tanzen und Lachen vorführen, gelingt ihnen jäh, ihre kleine Bühne in eine Zeitmaschine zu verwandeln, die Unbegreiflichkeit zu vergegenwärtigen, den kommenden Schrecken, die Willkür, den Wahnsinn. Ja, viele hatten das nicht geahnt... Eine Lehrerin der Ernst-Haeckel-Oberschule, Jördis Gierig, die das Projekt pädagogisch begleitete, stellte fest: „Es ist wichtig, gegen das Vergessen zu arbeiten. Der Unterricht reicht nicht mehr aus, um das aufzuarbeiten, was heute umso mehr gefordert ist.“ Für dieses Pensum steht in Berlin nämlich gerade mal eine Stunde Geschichtsunterricht pro Woche zur Verfügung und das nicht vor der 10. Klasse! Vielleicht ist darum eine Theaterbühne mit seinem Publikum gar nicht der richtige Ort für diese Darbietung, vielleicht sollte die fast 90 minütige Performance, die reichen Diskussionsstoff bietet und gerade Jugendliche zur Auseinandersetzung und zu neuem Interesse anzuregen vermag, doch: in Schulen gezeigt werden! Dort ist das notwendig. Das würde ich den Verantwortlichen gern ans Herz legen. - Das schöne und wichtige Projekt lobe ich am besten, indem ich das Feedback von Schülern an die Theatermacher zitiere:
"Wenn man mit den anderen Schülern spricht, die kennen diesen Teil der Geschichte nicht." (Domenik)
"Ich habe so viel Neues dazu gelernt. Über einzelne Schicksale redet man in der Schule nicht wirklich. Einzelschicksale bewegen einen mehr. Wenn die Opfer als Masse da stehen, denkt man 'o.k., die armen Leute.' Aber wenn man sieht, wie der Einzelne gelitten hat, dann ist das schon etwas Besonderes." (Sabrina)
"Je mehr ich mich mit ihm beschäftigt habe, desto mehr habe ich mich mit ihm verbunden gefühlt. Irgendwann schien es mir, dass ich meinen Zeitzeugen schon ewig kenne, und dass er mir alles von sich erzählt hat." (Gwenn)
"Im Unterricht wird das alles nur so runter gerattert, das Thema wird nicht persönlich bearbeitet. Durch das Projekt haben wir uns mit der emotionalen Seite beschäftigt, die persönliche Seite der Opfer kennen gelernt." (Domenik)
"In den Ansichts-Karten steckt ein Stück von mir. Jeder hat seine Vorstellung über das Stück mit eingebracht. Wir haben selbst unsere Zeitzeugen ausgesucht, und auch Ideen gesammelt, wie wir die Geschichten spielen wollen." (Sabrina)
|
Ansichts-Karten von gestern nach morgen im Theater o.N. | Foto (C) David Beecroft
|
Olaf Brühl - 8. April 2016 ID 9243
ANSICHTS-KARTEN VON GESTERN NACH MORGEN (Theater o.N., 06.04.2016)
Berliner Schüler bearbeiten in einer medialen Theaterperformance Originalberichte von NS-ZeitzeugInnen
Konzept und Regie: Susanne Chrudina
Video: Branka Pavlović
Ausstattung: Achim Naumann d’Alnoncourt
Dramaturgische Mitarbeit: Dagmar Domrös
Pädagogische Begleitung: Jördis Gierig
Produktionsleitung: Tanja Engel
Assistenz: Olga Ramirez Oferil
Technik: Markus Bünjer und Domenik Fuhr
Mit: Domenik Fuhr, Gwenn-Ernestine Habeck, Sabrina Hirchert, Selina Kempe, Lisa Knorr, Madleen Schluck, Menja Schulz, Emelie Stein und Samantha Virginia Thews
Die ZeitzeugInnen: Aron Bell, Margot Segall- Blank, Helena Bohle- Szacki, Dina Dzialowski, Sylvia Ebel, Julia Lentini, Klara Nowak und Walter Schwarze
Premiere war am 10. März 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-on.com
Post an Olaf Brühl
http://www.olafbruehl.de
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|