Shakespeare
für Bekloppte?
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(C) Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
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Bewertung:
„Lear her oder Leben! Ostdeutsche Szene: Berliner Räuber plündern William Shakespeare in Frank Castorfs Volksbühne“ titelte die F.A.Z. im Oktober 1992. Der Großkritiker Gerhard Stadelmaier verriss die Premiere des damals frisch inthronisierten Volksbühnenintendanten Frank Castorf kurz und bündig mit den Worten: „Castorf plündert und prügelt Shakespeare.“ Was Stadelmaier nicht verhindern konnte, die Volksbühne wurde 1993 Theater des Jahres und mit Castorfs König Lear und Marthalers Murx den Europäer als einziges Haus mit gleich zwei Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Frank Castorf trug mit seinem Lear in mehrfacher Hinsicht ein greises System zu Grabe - das der alten DDR-Parteibosse und das der in seinen Augen überkommenen westdeutschen Theaterpatriarchen - besorgt von einem geharnischten Schlägertrupp aus sieben Rittern.
Mittlerweile gehört Frank Castorf - wie auch Gerhard Stadelmaier - selbst zum Alten Eisen der Theaterherrscher. Ein großer König zwar und immer noch unruhiger Geist, aber einer, der am Ende dieser Spielzeit endgültig abdanken muss. Vorab übergibt Castorf schon mal probeweise das Zepter an den Schauspielnachwuchs. Gegeben wird wieder ein Lear, als wäre es eine Reminiszenz an die alten Zeiten des Aufbruchs oder aber auch ein Abgesang an die von Frank Castorf. Regie bei dieser Kooperation der Volksbühne mit der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" führt Castorfs langjährige Mitstreiterin Silvia Rieger. Sie hat bereits im letzten Jahr Gorkis Sommergäste mit Studierenden der HfS ziemlich chaotisch auf Bert Neumanns kargen Asphaltbeton geknallt.
Auch bei Riegers Lear nach Shakespeare versinkt die Welt im Chaos. Ein papierenes Reich, zerrissen und zerknüllt, geworfen vor jaulende Hunde. König Lear möchte sich im Alter von der materiellen Last und Verantwortung des Regierens befreien, indem er sein Reich unter seine drei Töchter aufteilen will. Die Art des Bekenntnisses der Liebe zu ihm soll über die Größe des Erbteils entscheiden. Zwei Töchter reden dem Vater nach dem Mund, die dritte liebt ihn aufrichtig, aber nicht mehr als es einer Tochter geziemt und wird dafür von Lear verbannt. Die Welt ist schlecht, voll von Gier, Neid, Lüge und Verrat. Die Alten sind der Jugend lästig und ernten nun, was sie einst im Nachwuchs angepflanzt. Das kann einem schon mal die Sprache verschlagen. Lear ist ein einziger Schrei ohne Worte. Silvia Rieger gibt ihn selbst. Ein senil greinender Greis im güldenen Schlafanzug mit umgehängtem Sandmannbart.
Shakespeares Plot des von seinen Töchtern gedemütigten und langsam dem Wahnsinn verfallenden Lear ist in Silvia Riegers Inszenierung nur noch in Splittern erkennbar. Man spielt die Tragödie ganz als Castorf-Farce. Lears Töchter sehen aus wie Chicks on Speed. Regan und Goneril sind hier bipolar in einer Figur vereint, während die jüngste Tochter Cordelia nur mal kurz und stumm vorbei stöckelt. Dafür brüllen Graf Gloucester und sein Bastardsohn Edmund umso lauter. Dass im Stück mehrere Briefe mit intrigantem Inhalt hin und her gehen, verleitet die Regisseurin zu einem Slapstick mit großem Briefkasten, aus dem eine Flut von Papier quillt, die nicht mehr zu bändigen ist. Ein Running Gag des Abends. Auf derart zugemüllter Bühne entspinnt sich ebenfalls ungebremst ein zunehmender Wahn aus Kreischarien, minutenlangem Topfschlagen und anderen Blödelszenen.
Ja so warn's die alten Rittersleut', ist man geneigt zu denken. Neune machen einen Lärm für Hundert. Weiter marschiert ein Trupp Rotkäppchen auf. Es wird noch was vom Pferd und Kühlschrank erzählt und Leinezwang für Bullterrier in Brandenburg gefordert. Da sperrt sich der getreue Kent glatt selbst in den Block, wie die ganze Inszenierung in einem Narrenkostüm steckt. Die Kappe dazu bietet der Shakespeare’sche Narr seinem König an. Die Bühnenwelt ist aus den Fugen und zerfällt in zwei Teile. Links werden Heiner Müllers gesammelte Werke gegeben, rechts spielt man die von Shakespeare. Othello muss nach Zypern. Es geht gegen die Türken. Aha. Und alle wollen an die Front, doch „das kostet Menschenleben“. Na sowas.
Nachdem Riegers Lear noch was in unverständlichem Englisch gebrabbelt hat, eröffnet der Müller-Kiosk an der Wolokolamsker Chaussee. Es gibt Bier und Heiner Müller satt. „In meinem Kopf der Krieg hört nicht mehr auf.“ Cordelia stürmt als Asiat, ein Barbar aus dem Osten, die Bühne und brüllt etwas von Kriegspatriotismus - bis alles am Boden liegt. Schon zu Beginn zitiert Silva Rieger aus dem Doors-Song The End. Am Ende lässt sie den Vorhang zuziehen. Der Rest ist Schnee und Schweigen.
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Stefan Bock - 3. Februar 2017 ID 9819
LEAR (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 02.02.2017)
Regie: Silvia Rieger
Raum: Bert Neumann
Bühne und Kostüme: Laurent Pellissier
Licht: Torsten König
Dramaturgie: Sabine Zielke
Mit: Maximilian Hildebrandt, Daniel Klausner, Benjamin Kühni, Jeremy Mockridge, Marie Rathscheck, Kim Schnitzer, Léa Wegmann, Felix Witzlau (alle 4. Studienjahr Schauspiel) und Silvia Rieger
Premiere war am 1. Februar 2017.
Weitere Termine: 26.02. / 09. + 30.03. 2017
Eine Kooperation mit der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch"
Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/lear/
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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