Vom ureigenen Dunkel ins goldene Licht
Tanztheater auf der TRIENNALE MILANO 2017
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Bewertung:
Ein Schwerpunkt im Theaterprogramm der diesjährigen Triennale Milano ist es sicherlich, innovativen italienischen Produktionen einen angemessenen Rahmen zu bieten, wobei auch der Tanzszene Raum geboten wird. Die Aufführungen der zweiten Aprilhälfte präsentierten die neuesten Stücke von Virgilio Sieni und Dewey Dell. Während ersterer als Leiter der Tanzbiennale Venedig und Altmeister der europäischen Tanzszene die junge Choreographin Teodora Castellucci mit Dewey Dell bei weitem, was ihren Bekanntheitsgrad betrifft, überragt, fällt der Vergleich zwischen den zwei Produktionen jedoch überraschenderweise zum Vorteil der letzteren aus.
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Cantico die Cantici | (C) Virgilio Sieni
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Virgilio Sieni bietet ein makelloses Schauspiel, das sich mit der Berufung auf das Hohelied Salomons (Cantico die Cantici) ein hehres Ziel steckt. Dieses „Lied der Lieder“ umzusetzen ist kein leichtes Unterfangen. Um diese himmlische Harmonie und spirituelle Erotik einzufangen, lässt Sieni die Tanzenden sich in wiederkehrenden Reigen verschlingen und entwinden, vom spiegelnden Gold des Bühnenbodens erhellt. Der Versuch, diese Hymne an die Schönheit und die Idylle einer wunderbaren Liebe darzustellen, ist gelungen, aber überzeugt nicht völlig. Der Liebreiz der Bewegungen, die Harmonie der Begegnungen verbleiben im Rahmen des Menschlichen.
Den Rahmen des Menschlichen zu sprengen gelingt jedoch der Tanzgruppe Dewey Dell mit Sleep Technique. Ihr Ziel ist weniger hoch gesteckt, aber dennoch anspruchsvoll.
Beide Produktionen vereint eine Öffnung des Blicks in die Weite der Vergangenheit. Ist das Hohelied bereits entrückt in eine uns ferne Welt, stößt SleepTechnique an die Grenzen des Menschlichen. Wenn auch der Titel des Tanzstücks nur vage Vorstellungen aufkommen lässt, ist doch der Untertitel umso expliziter: eine Antwort auf die Grotte von Chauvet-Pont d’Arc in Ardèche (in Frankreich).
Diese erst 1994 zufällig entdeckte Höhle birgt Wandmalereien unglaublicher Eindrücklichkeit. Vor mehr als 36.000 Jahren wurden sie erschaffen. Jahrtausende lang war diese Welt unserer fernen Vorfahren versunken, und daher ist es umso ergreifender jetzt ihre Nähe zu spüren. Dewey Dell wollte diesen „wortlosen Dialog, ein gegenseitiges Erkennen, das Jahrtausende auslöscht“, diese emotionale Verbundenheit wiedergeben.
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Dewey Dell mit Sleep Technique 8 | (C) Triennale Milano
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Auf der Bühne schälen sich die Figuren unmerklich aus dem grenzenlosen Dunkel des kahlen Raums, ausgestoßen aus dem finsteren Schlund der Höhle, eigenartig verformte Figuren, gesichtslos, unheilvoll. Finstere Rituale starker Urgefühle skandieren vormenschliche Begegnungen, die sich in archetypischen Konstellationen kristallisieren. Der Rhythmus steigert sich bis zur Besessenheit. Die stark skandierte musikalische Basis, die die obsessiven Konvulsionen der tanzenden Körper peitscht, dringt mit ihren Vibrationen auch in die Körper der Zuschauer ein und ruft eine Identifikation hervor. Die Zuschauer werden im wahrsten Sinne des Wortes mitgerissen, wie in einem Strudel in diese magische Urwelt hineingezogen. Das Stück klingt aus mit einem zaghaften Lichtschein, der im Dunkel verebbt, eine tiefe Stille hinterlassend.
Dewey Dell, die 2007 gegründete Tanzgruppe, die zu den interessantesten und innovativsten der italienischen Tanzszene zählt, besteht aus den Geschwistern Teodora, Agata & Demetrio sowie Eugenio Resta. Was diese Gruppe auszeichnet, ist ihre Vielseitigkeit und ihre tief schürfende Aufarbeitung. Diese Produktion hat Dewey Dell in intensiver Zusammenarbeit mit einem Archäologen zusammengestellt.
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Sylvia Schiechtl - 3. Mai 2017 ID 10007
Weitere Infos siehe auch: http://triennale.org/teatro
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