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Ruhrtriennale 2009, Jahrhunderthalle Bochum, 30.08.2009

MOSES UND ARON

Oper von Arnold Schönberg, Libretto vom Komponisten.


(C) Paul Leclaire 2009

Auf neuem Grund.

Willy Decker entwirft Schönbergs Fragment „Moses und Aron“ als religion engagée in der Bochumer Jahrhunderthalle

Am Anfang war der Zuschauer. Inmitten einer Ortlosigkeit, gefangen in einer symmetrischen Spiegelkonstruktion erzeugt der Zuschauer aus sich heraus und fast automatisch einen Wunsch nach etwas, das sich kategorial von der Leere des Gesehenen und Gehörten unterscheiden möge. Dieser im geheimen verhandelte Wunsch aller wird in eine Sichtbarkeit gewandelt und bildet ein wesentliches Eingangsmotiv für die plötzliche Ansprache eines Mannes. Sein Gedanke ist der nach außen getretene Wunsch nach diesem absoluten Unterschied und nach dem dadurch sich öffnenden neuen Ort. Aber dieser Mann sitzt mit uns auch nur in der Reihe. Ist selber bloß Zuschauer und ein Gleicher unter Gleichen. Zuschauer sein heißt bekanntlich, kein Held sein, es heißt, lieber andere berufen als ein Berufener zu sein. Erst eine gewisse Imperativik, jene schulväterliche nachsetzende Insistenz vermag diesen Mann wirklich aus der alten Ordnung zu lösen. Aus den eigenen Reihen zischen ihn die vielen Stimmen an, die doch aus einem unheimlichen Zusammenhang heraus sprechen. Dank dieser Ansprache und des darin formulierten Auftrags, neuen Raum für alle aufzufinden, kann sich dieser Mann endgültig von den Zuschauern abspalten, sich entkleiden und er schafft es sogar in dieser neuen Machtposition des Angeleuchteten und des von allen Gesehenen, mit einem dunklen Stab die Spiegeltribünen im Zentrum aufzubrechen. Ein neuer, bislang verborgener Grund tut sich auf. Es handelt sich um einen vollkommen unbeschriebenen Grund, einen der weder vorschreibt noch das beschreibt, was dieser Mann Moses anfänglich gesagt hat. Aber wie soll dieser Grund für ihn zu einem Grund für alle werden? Dazu müsste man erklären, was diese Leere bedeutet, welche Freiheit und welche Gesetzlichkeit aus ihr spricht. Dazu müsste man aber auf der anderen Seite auch etwas verstehen können. Für dieses Vermittlungsvakuum regt sich alsbald in dem Tonfall einer lockeren Aufdringlichkeit Verstärkung. Sein Bruder - linkisch lächelnd, Hände in den Taschen - kommt zu „Hilfe“; doch versteht er diesen Grund selbst erst einmal überhaupt nicht. Ihr Verhältnis zueinander ist durchaus schräg. Aron konsterniert den Bruder, verwendet seinen Stab als Edding und bemalt den neuen Grund, der für ihn nichts weiter bedeutet als ein leeres Blatt Papier. Zieht ein Dreieck, so, dann noch eins und malt kurzerhand ein Kreis drumrum. Jetzt entsteht ein Zeichen, das heute vielleicht nicht nur einen Davidsstern, sondern schon eine Sorge und eine Katastrophe bezeichnet. Aron denkt nicht. Er ist Medientechniker, der Inbegriff von Zeitgeist. Der Prophet (ein aporetisches mixtum compositum aus Verheißung und Verkündigung, dessen erster Spezialfall Mose ist) Moses muss seinem Bruder schon handgreiflich werden und ihm massiv die Augen zuhalten. Sieh das Unsichtbare! Das ist der Grund einer möglichen neuen Ordnung. Jetzt hört er eine Transzendenz. So will Aron es alsdann zu erklären versuchen. Die Stimmen aus denjenigen Zuschauern, die berufen konnten, strömen herunter und bekommen Abdrücke des neuen Grundes geschenkt. Schnell wird dieses leere Papier in ihren Händen zerrissen, weil ihnen darauf mehr genommen zu sein scheint als gegeben. Das Neue wirkt immer lächerlich. Schnell wird die alte Ordnung wieder hergestellt, das Leben in einer Reihe und unter einer geschützten Hülle, einer permeablen Membran. Membranleben, Reihenleben bedeutet, man ist den im Grunde bekannten Projektionen anderer ausgeliefert und verweigert brav die Einsicht in die Erzeugungsregeln dieser Realität. Andererseits bleibt diese anfängliche Sehnsucht nach einem neuen Grund, einem neuen Ausdruck. Moses gibt nach dem ersten Debakel nicht gleich auf, geht in die Wüste, auf einen Berg und hört und empfängt eine Gesetzlichkeit, die Regeln für eine Freiheit auf Basis des neuen Grundes sind. Er schreitet sie regelrecht ab und uns werden sie nachgezeichnet. Nun erst werden wir durch diese Mittel des Bewusstseinstheaters scheinbar entlastet von der okkupierten und beteiligten Zuschauerperspektive in eine Erkenntnisperspektive, die mehr sehen kann. Allerdings bald auch etwas mehr als sie sehen wollte. Aus dieser Perspektive sieht man, wie die ehedem normalen Membranbewohner mehr und mehr einem Trieb zum Exzess nachgeben. Das sich auserwählte Volk sieht sich aber auch doppelt angegriffen, in Bild und Ton: auf der einen Seite wird jetzt eine durch und durch angriffslustige Musik (Tanz der Schlächter) auf sie zugefahren und schwups, als sich die Masse Mensch umdreht, um die Fluchtmöglichkeiten zu checken, steht es da: das wunschoffene Götzenbild, ein echtes Kalbmodell. Es wird enger. Und heißer. Durch einen widerstehenden jungen Mann, der genau vor einer Kamera erschossen wird, und bei weitem mehr durch die Vorstellung eines „Blutopfers“. Ausgehend von einer plötzlich massive Distanz erzeugenden Nacktheit kulminiert der selbstmörderische Ritus um diese vier jungen Frauen in einen ichlosen Trancezustand inmitten ihrer Blutlachen, in einer überall und insbesondere auf dem neu eingeschriebenen Götzenbild kopulierenden indefiniten Masse aus Leibern. Die Frage nach dem Grund ihrer Ordnung wird in diesem Bild mit der Abstillung eines tödlichen Triebs beantwortet. Interessant ist die Differenz. Der Prophet Mose kommt noch einmal zurück. In sich die Gewissheit einer Erkenntnis, eines Wurfs und hinter sich die nun gleichmäßig beschriebene Ordnung aus den zehn mächtigen Übergriffen des „Du sollst“. Dieser Aufprall zweier Welten, Es und Über-Ich, negierte und bestimmte Freiheit, Spiel und Ernst, Ekel und Erhabenes, ist tragisch. Gibt es einen Schuldigen? Aron vielleicht? Oder liegt in der Berufung zu einer neuen Ordnung selbst schon eine Tendenz zum Wahn. Moses zweifelt an sich und verzweifelt an der Suche nach dem neuen Grund. Seine Darstellungsmittel scheinen ihm nicht ausreichend für die Darstellung des wahren Gedankens. Zu unrecht: Der neue Grund unter ihm und ein Lichtschein entziehen sich genauso wie ein fis der Streicher. Der Kopf richtet sich senkrecht nach oben zum Du-Wort. Moses’ Gebärde einer pathosfreien rationalen Verzweiflung bildet das letzte räumliche Zentrum der Zuschauer; bevor ihr Blick von dort, dem Grund von Religion, ungefragt zurückkehrt in die spaltlose alte Ordnung des Anfangs und seiner, wie inzwischen deutlich geworden, falschen Hoffnung auf Religion.


(C) Paul Leclaire 2009


Willy Decker hat die mit dem Ruf des Untheatralischen behaftete letzte Oper Schönbergs Moses und Aron in einer fesselnden „Inszenierung“ in die Jahrhunderthalle verpflanzt. Alles, Zuschauer, Tribünen, das Orchester, rollende Tableaus, und nicht nur das allseits Bekannte wird darin zum Darstellungsmittel. Dadurch erhält gerade der Bezug zur Musik jenes notwendige Moment der Brechung, das Adorno sehr früh als Manko des integralen Komponierideals an Moses und Aron beschrieben hat. Es obwaltet wie in den Besetzungen auch bei den konkreten theatralischen Mitteln eine Ökonomie, die dem heruntergekommenen Ruhrgebiet keinen Pomp entgegenhält, sondern für eine Kreativität der Einfachheit vorbildlich einsteht. Wie gewohnt arbeitet Decker sehr genau mit und an der Musik und arbeitet szenisch immer wieder eine bestimmte Perplexität heraus, als kurze Irritation zwischen den im Affektverhalten durch und durch heutig verstandenen Menschen. Diese stichartigen Momente überraschen und freuen besonders. Seine Inszenierung baut den zweiten Akt als ein stetig anwachsendes Crescendo bis zu einer unerträglichen Fallhöhe auf. Das Unerträgliche dieser Fallhöhe ist, dass sie einen ungeheuren Reiz ausübt und keineswegs mehr an eine trockene Ordnung von Steintafeln glauben lässt. Für diese den Ansprüchen des Werks nach heftige Unternehmung konnte er sich auf die beteiligten Künstler, der Solisten, der Choristen und der Bochumer Symphoniker, ausnahmslos verlassen. Michael Boder legt dem Werk gegenüber offenbar eine ihm äußerst zuträgliche Coolness an den Tag, die sich beim Dirigieren in eine besondere Lust kanalisiert. Insbesondere bei der Hervorkehrung des theatralischen Willens dieser Musik. Besonders gern hört man auf die fein ausgearbeiteten Tempoabstufungen bzw. –verschiebungen und auf eine spannungsgeladene und einsatzfreudige Klangrede aller instrumentalen Gruppen. Selten nur steht mal ein Ton über. Für die "special effects" Schönbergs wie die halsabschneidenden Abwärtsglissandi muss man die Bochumer nicht zweimal bitten. Bis auf die untergegangenen halbierten Hexachorde der Anfangstakte kommt es zu einer mehr als guten Klangentfaltung in der Halle und, was wegen der immensen Abstände doch ein wenig erstaunlich ist, zu einem sehr überzeugenden Wort-Ton-Verhältnis mit einem leichten und glücklich austarierten Primat der Stimmen. Dale Duesing gibt einen smarten, anglophilen Moses in einer dringlich-charaktervollen Deklamation ohne jegliches Raunen oder opaeske Greisesallüren. Verneigung! Aron ist hier ebenfalls nicht der typische lyrische Einluller, kein belcantomagnetischer Seelenfänger, sondern eher der härter anschlagende, durchsetzungsfähige Tenor. Er spricht sicher, aber ausdrucksarm. Gerade das kommt an! Das Timbre Andreas Conrads passt sehr gut zu dieser Figurzeichnung Deckers, für den Aron keine gleichwertige, aber eine gleichmächtige Figur ist, einer der immer eine deutliche Distanz zu den Dingen hält. Die von uns titulierte unbewusste Stimme der berufenen Zuschauer, die siebzig Ältesten und das Volk verkörpert und singen gar nicht unbedingt so übermäßig viele, aber vollkommen ausreichend Sänger und Sängerinnen vom Ensemble ChorWerk Ruhr. Wie herrlich sie allein anzuschauen! Decker hat ihnen offenbar eine nachhaltige Spannungsinfusion in die Körper injiziert, die bei Szenen des Aufruhrs, der Empörung oder des Frustes genauso greift wie bei den lasziven Ausschweifungen. Zweifellos bedeutet dieses 1999 gegründete Ensemble eine provokative Ansage an jedes herkömmliche Chorsängerverständnis. Vokal liegt hier ebenfalls eine sehr gute Einstudierung vor. Beispielsweise werden die Szenen 2 bis 4 des zweiten Akts durchgängig textverständlich gestaltet ohne Einbussen beim Ausdruck oder, worum Schönberg bange war, beim Schönklang. Dazu bleiben trotz eines massiven, nie nachlassenden Spiels sowohl die Einsatzgenauigkeit der Stimmgruppen als auch die schwierigen Nuancierungen in der Dynamik, wie es die Phrasenenden immer wieder einfordern, größtenteils gewahrt. Die übrigen Sänger und Sängerinnen zeigen sich für den Spielort ausreichend besetzt.


(C) Paul Leclaire 2009

Die Ruhrtriennale hat einen neuen Intendanten. Er ist jetzt aufgebrochen. Die Berufungsszene verliert sogar ein stückweit an Schlüssigkeit eben genau dadurch, dass jemand diesen Aufbruch unbedingt zeigen möchte. Das ganze Herangehen in dieser Produktion macht mehr als deutlich, dass jemand in die Tiefe schauen und dort nach neuen Gründen suchen will, dass jemand etwas vor sich hat, dass jemand einlädt mitzugehen. Nach etlichen Fehlbesetzungen in Bielefeld, in Bremen, in Berlin und Bayreuth ist es eine wahre Wonne, Arbeitsergebnisse von berufenen Intendanten zu sehen, die sich ihrer immer unmöglichen Aufgabe – das Noch-Nicht-Darstellbare wirklich zu zeigen – stellen und eine zeitlang tatsächlich darauf verzichten können, zu Hause ihre Schafe zu weiden.


Wolfgang Hoops - red / 3. September 2009
ID 4394
Zu Empfehlen:
Die kommende Uraufführung nach Pier Paolo Pasolini:
Teorema

Premiere am 18. September, 20.00 Uhr in der Jahrhunderthalle Bochum

Siehe auch:http://www.ruhrtriennale.de/




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