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Leichenfledderer

FRAGMENTE. Ein Memento zu Mozarts "Die Gans von Kairo" KV 422 von Roland Schwab und Christian Baier


MOZART-FRAGMENTE an der Deutschen Oper Berlin | Foto (C) Bernd Uhlig


Die Szene könnte aus Glucks Orpheus und Eurydike entstammen, aber auch aus Spielbergs Poltergeist - die aufgeweckten Toten brechen durch die Erde an den Grabsteinen vorbei nach oben - könnten Ausstatterin Karin Fritz und Roland Schwab, ihr Regisseur, Verwandtschaftliches an- wie ausgekostet haben; der Gesamteindruck, rein optisch, kann mit gutem Grund als eine Art von Depressiva nachbezeichnet werden: das Theater im Theater oder, besser noch, Theater hinter dem Theater, je nach eingenomm'ner Perspektive. Ganz weit hinten also grenzt ein roter Samtvorhang die realistische (das noch weit hinter hingedachte Publikum) vom künstlerischen "Rest der Welt", den Leuten im bzw. vorm Theater resp. roten Samtvorhang. Man nimmt, in Zauberflöte oder Figaro-Kostümen, lauthalsigen Beifall und breit lächelnd sowie Händchen haltend Mann an Mann und Frau an Frau entgegen, knickst, verbeugt sich brav und schreitet, in der Reihe, links am roten Samtvorhang entlang... die Bravi und die überenthusiastisch anmutenden Pfiffe einzelner verlor'ner Seelen und Bewunderer zur Kenntnis nehmend. Danach schließt der Vorhang. Alle Farbe ist mit einem Schlag entwichen. Und die eigentliche Bühne wird zum Totenreich.

"Erfolglose" (laut des Programmzettel) bevölkern leichenähnlich diesen Raum. Ein Orkus der gestrandeten und unerfüllten Hoffnung auf ein wahres und erfülltes Leben in der Kunst... als Künstler. Wie Lemuren kriechen, kreisen, krusten die Gestalten - aus Bewegungschor, Statisterie sowie Fassadenkletterern (Choreografie von Silke Sense) hin und her und hoch und runter; so viele Untote, so derart viele fratzenlose Geisterbahngestalten fast zwei Stunden lang um die hinzu nicht unähnlich maskierten, kostümierten Hauptprotagonisten (Marguerre, Prudenskaja, Kang, Bieber, Scherer, Lee und Brück) bewegt zu sehen, kostet Überwindung. Und man muss schon sehr ein Optimist, ein Freund des Lebens sein, um nicht mental-beschädigt diese Vorstellung am Ende zu verlassen.

*

FRAGMENTE heißt der fulminante Abend und beinhaltet vor allem Teile oder Ausschnitte - Fragmente also - aus L'Oca del Cairo KV 422, einer völlig unbekannten und von Mozart nie als Endprodukt geplanten und gedachten Oper; und es muss im Nachhinein als wohltuende Leichenfledderei bezeichnet werden was sich da das Inszenierungsteam unter Johannes Debus (Dirigat) geleistet haben wollte, denn: Diese Musik - in Teilen lässt sie schon an Arien, Duette und Ensemblesätze aus Entführung oder Figaro erinnern - ist es wert, dass man sie unverschämterweise der Verschlusssache des Erbgutes entreißt; wie wenn nicht so könnte dem Genius, ausgerechnet dann im Mozartjahr, noch eine ganz besondere und unverwechselbare Note angewidmet sein! Innovativer hatte das bisher noch keiner machen wollen, nochmals Bravo!! und Hut ab!!!

Andre Sokolowski - 24. April 2006
ID 2359
FRAGMENTE (Deutsche Oper Berlin, 23.04.2006)
Ein Memento zu Mozarts L'Oca del Cairo KV 422 von Roland Schwab und Christian Baier
Musikalische Leitung: Johannes Debus
Inszenierung: Roland Schwab
Ausstattung: Karin Fritz
Dramaturgie: Christian Baier
Choreografische Mitarbeit: Silke Sense
Mit: Eleonore Marguerra, Marina Prudenskaja, Yosep Kang, Clemens Bieber, Tina Scherer, Hyung-Wook Lee und Markus Brück sowie den Musikerinnen und Musikern Florian Heidenreich (Kontrabass), David Johnson und Kevin McCutcheon (Klaviere) sowie Tilman Hussla, Martin Bräutigam und Matthias Müller (Streichertrio)
Bewegungschor und Statisterie der Deutschen Oper Berlin
Fassadenkletterer der Fa. akrobat Industriekletterer
Chor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Premiere war am 15. April 2006.
Weitere Termine: 01., 05., 18. und 29.12.2006


Weitere Infos siehe auch: http://deutscheoperberlin.de





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