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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Selbstmitleidige

Sinnsuche,

schräges

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Suff



Sophie Basse in der Titelrolle der Wanja Woinizkaja in Onkel Wanja am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

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Wanja (Sophie Basse) watet missmutig schweigend durch eine Flut am Boden liegender Papiere. Der Theatervorhang hinter ihr ist gesprenkelt, verwaschen und verfärbt. Er öffnet und schließt sich anfangs mehrfach. Der Vorhang gibt dabei den Blick frei auf sonderliche Eigenheiten von kurz im Zentrum stehenden Individuen. Ein Mann hustet und röchelt herzerweichend. Eine Frau steht erhöht und bewegt ihre Arme vogelähnlich flatternd hinauf und hinunter. Ein junger Mann liegt zuckend am Boden, den Oberkörper aufbäumend. Eine junge Frau fährt mit den Fingern ihr Gesicht ab und verbirgt so ihren Anblick. Andere Figuren gurren in Tierlauten wie „Kuckuck“ oder trinken müßig aus durchsichtigen Glasflaschen Wodka.

In Onkel Wanja interessiert sich der russische Dramatiker Anton Tschechow für Szenen aus dem Landleben zynischer, verlebter und desillusionierter Intellektueller und Künstler. Sascha Hawemann skizziert in seiner Inszenierung am Theater Bonn die abgründige Vereinzelung, Sehnsüchte und absurde Selbstkasteiungen von Tschechows Figuren, lässt gleichzeitig aber auch ihren Trotz anklingen. Leider porträtiert Hawemann dabei den schleichenden Konflikt der Familienwirtschaft im Herzen Russlands recht langatmig, unzusammenhängend und verwirrend. Artifiziell mutet auch Wolf Gutjahrs mehrebige Bühne an, in der auf der rechten Seite ein abgeschlossener Glaskubus ein modernes, steriles Krankenhauszimmer beherbergt. Regelmäßig besuchen Akteure diesen Raum mit aufgerichteten Krankenbett und daneben aufgestellten, fahrbaren Überwachungsgeräten. Eine gealterte Figur hält sich hier sogar fast dauerhaft auf.

„Russland ist ein schönes Land. Mein schönes Land“, ruft Ilja Iljitsch Telegin (Christoph Gummert) national rechtgläubig und beherzt aus. Er überhöht die Auserwähltheit seines Volkes und spricht auch aggressiv von Brandgranaten. Doch Iljas vor sich her getragene, selbst erklärte Scholastik halten die meisten anderen längst nicht für hellsichtig. Seine betonte Vaterlandstreue wird sogar belächelt. Ilja versucht auf anderen Wegen, Aufmerksamkeit zu erregen. Er beobachtet, wie das aufopferungsbereit betriebsame Mauerblümchen Sonja (Lena Geyer) dem Arzt Michail Astrow (Sören Wunderlich) hinterher schmachtet. Ilja bietet sich nunmehr selbst unterwürfig hingebungsvoll Sonja an Michails statt an – als toller Hund, als Schnecke, Parasit oder Zecke. Die gestenreiche Ausgestaltung dieser Figur bietet ein köstliches Bild. Leider stößt sein Ansinnen nicht auf den Hauch eines Interesses. Später ergeht sich Ilja wieder in herkömmlichen Bildern der Stärke, von Säbel und Uniform.

Sonjas Schwarm, der Naturwissenschaftler und Arzt Michail widmet sich vor allem den Pflanzen und dem Tierschutz. Er bedauert, dass das Alte dem Neuen weicht. Er warnt vor Ausbeutung und prophezeit den totalen Verfall. Mitleid oder Barmherzigkeit sind nicht sein Fall. Mit einer gewissen Arroganz hat er vor allem Verachtung für seine Nächsten übrig. Er klagt verbittert über den menschlichen Stumpfsinn, gesellschaftliche Ödnis und die Gier des Menschen. Auch er äußert in enervierenden Monologen Selbstzweifel und fällt exzessiv dem Alkohol anheim: „Wer kein Leben hat, der säuft.“

Trotz seines Suffes bemerkt Michail, dass Wanja ihm Morphium entwendet. Träge ignoriert er hingegen, dass Sonja hartnäckig und offensiv um ihn buhlt. Obwohl er sie sehr hässlich abweist, ist es später Sonja, die im Kreis herumläuft und im Brustton der Überzeugung wiehert: „Ich bin so hässlich.“ Michail wird wegen seiner Naturliebe nicht nur von der unscheinbaren Sonja, sondern auch von der feschen Jelena (Sandrine Zenner) bewundert. Jelena erleben wir später minutenlang bei französischsprachigen Stilübungen als Schauspielerin [leider ohne Untertitel], die von den anderen Figuren – nun selbst mitleidloses Publikum – wenig goutiert werden.

Dem Dämon negativer Gefühle scheinen in dieser bitteren Komödie alle ausgeliefert. Die 47jährige Titelheldin Wanja (bei Hawemann eine Tante) tritt verzweifelt durch zuhauf auf den Boden liegende Papiere, die sie teils unbedacht in ihren Ausschnitt sammelt. Sie bezeichnet den Urheber der Schriften, ihren Schwager, einen wehleidigen, alternden Professor (Daniel Stock), als „Perpetuum Mobile“ oder „angefressenen Zwieback“. Später gibt sie unverhohlenen Neid auf diesen Schwager, den Schriftsteller Alexander Serebrjakow zu. Wanja ist in seine zweite Gattin Jelena verschossen, die jedoch deren Anbändelungsversuche geflissentlich ignoriert. Die Sorge Alexanders ist hingegen vor allem, nie an die Kunst von Iwan Sergejewitsch Turgenew (1818-1883) heranreichen zu können. Ruhelosigkeit und das Bild der Feindschaft unter den Menschen hat auch Wanjas Schwager scheinbar verinnerlicht. Er beschreibt seine Mitmenschen, die zugleich auch seine Sujets sind, als „kleine Käfer“ und „leere, verzweifelte, graue Gesichter“. Alexander behauptet, Gefühle seien wertlos.

Was ist künstlich, was echt? Die unmittelbaren Angehörigen nehmen emotionale Ausbrüche ihrer Nächsten bewusst gar nicht wahr, nicht für voll oder verurteilen sie sogar. Persönliche Zustände des Zweifelns und Zögerns, der Melancholie und der Schwermut scheinen lieblos unter dem Ausruf eines „Sterbens wie im Prospekt“ subsumiert, wie eine Figur leidenschaftlich konstatiert. Verzweifelte Gesten der Zärtlichkeit bleiben unbeantwortet. Kurze Szenen beleuchten, wie Figuren, die gemeinsam einen Haushalt bewohnen, einander mitunter gleichgültig scheinen. Obwohl sie nach außen hin an familiärer Harmonie festhalten, haben sie sich voneinander entfremdet.

Zu guter Letzt verwirrt Ursula Grossenbacher in einer Doppelrolle als Mutter der verstorbenen Gattin Alexanders, sowie als alte Kinderfrau Marina. Als letztere liegt sie die meiste Zeit im geschlossenen Kubus hinter Glas. Sie nimmt als Außenstehende nur noch sporadisch am Geschehen teil und wirkt meist benommen oder verklärt. Sie faselt als Bettlägrige von einer Revolution für ein besseres Russland und spricht von einem Tod im Wassergrab. Gegen Ende tritt Marina aus ihrem Kubus und schaut benommen ins Publikum. Marina fragt Jelena: „Könnte ich vielleicht diese Szene spielen?“ Jelena überlässt der unbewegt Stehenden nun den Monolog, während sie agiert. Nach etwa vierstündiger, glückloser und konfliktreicher Vorführung greift Wanja zu guter Letzt zur Waffe. Sie schießt, auf ihre oft rücksichtslosen und lethargischen Angehörigen zielend, und trifft mehrfach daneben. Der Exzess an emotionalen Herumgeschreie findet trotzdem prompt und sehr plötzlich ein Ende.

Tschechows über 120 Jahre alte Drama handelt viel von Selbstekel und Selbstüberschätzung, Eitelkeit und dem Gefühl nicht auszureichen. Während des aktuellen Krieges bietet der viel gespielte Vierakter ein gnadenloses Sittenbild einer engstirnigen, wie betäubt schwermütigen und patriarchalen Gesellschaft. Wenn Ideologiekritik und politische Objektivität nicht mehr möglich sind, mag russischen Autoren ihr Schreiben tatsächlich hohl erscheinen, wie die Figur des Schriftstellers bedauert. Die zahllosen Bilder gefühlter Leere rühren in Bonn jedoch nur selten an und wirken manchmal auch zu beliebig, übertrieben und wenig pointiert. Auf der Bühnenrückwand übereinander gesetzte Neonröhren blenden mit kaltem Licht. Während der Vorführung fahren die Scheinwerfer mal hoch und herunter. Gegen Ende hängt eine Scheinwerfer-Leiste gefährlich in Schieflage schräg über der Bühne. Auch Theaterrauch kommt gehäuft zum Einsatz. Leider wirkt ferner die Personenführung mitunter unkoordiniert, wenn etwa Figuren nach hinten hin sprechen, mit ihren Rücken zum Publikum. Nichtsdestotrotz tragen insbesondere die guten Akteure und Sounddesigner Xell mit zurückhaltenden Arrangements an der Ziehharmonika und anderen Instrumenten den Abend über weite Strecken atmosphärisch stimmungsvoll.



Zerrüttete Verhältnisse in Onkel Wanja am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Ansgar Skoda - 26. April 2022
ID 13592
ONKEL WANJA (Schauspielhaus Bad Godesberg, 23.04.2022)
Inszenierung: Sascha Hawemann
Musikalische Leitung, Komposition und Sounddesign: Xell
Bühne: Wolf Gutjahr
Kostüme: Ines Burisch
Dramaturgie: Carmen Wolfram
Besetzung:
Alexander Wladimirowitsch Serebrjakow ... Daniel Stock
Jelena Andrejewna … Sandrine Zenner
Iwan Petrowitsch Wojnitzki ... Sophie Basse
Sofia Alexandrowna ... Lena Geyer
Michail Lwowitsch Astrow ... Sören Wunderlich
Maria Wassiljewna Wojnizkaja ... Ursula Grossenbacher
Ilja Iljitsch Telegin ... Christoph Gummert
Live-Musik ... Xell
Premiere am Theater Bonn: 23. April 2022
Weitere Termine: 27.04./ 08., 13., 28.05./ 2., 8., 18., 22.06.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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