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Premierenkritik

"Hier flutscht es

aber nicht."



Sandrine Zenner und Paul Michael Stiehler in Mnemon am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Bewertung:    



Wie zuverlässig ist unser Erinnerungsvermögen? Lassen sich Gedanken ähnlich wie Gegenstände sortieren? Erinnern wir nur das, was wir erinnern wollen? Lässt sich ein kulturelles Gedächtnis befragen - ähnlich einem Archiv gemeinsamer Erlebnisse?

Mnemon wirft viele Fragen auf. Das Stück handelt vom Erinnern, Vergessen, vom Gehirn, seinen Windungen und Funktionen. Der sperrige Stücktitel erinnert an die Mnemones im antiken Griechenland. Sie assistierten als menschliches Archiv durch eidliche Aussagen. Als ein mögliches Vorgängerphänomen heutiger Behörden verliehen sie so gesellschaftlichen Regeln, Gesetzen und Gerichtsentscheidungen Gültigkeit. Doch wie neutral, unbeteiligt und kundig können menschliche Individuen sein?

Simon Solberg, seit 2018 Hausregisseur am Theater Bonn, entwickelte sein neues Stück mit seinem dreiköpfigen Ensemble als lebendige Sprachcollage. Er besorgte auch das oft ins Halbdunkel getauchte Bühnenbild; eine großzügige Ansammlung verschiedener altertümlicher Standuhren, Kommoden, Pulte und Lampen. Als Zeugnisse vergangener Zeit inspirieren sie zu möglichen Erinnerungen, die auch „false memories“ oder Konfabulationen sein können, also nie stattgefundene Erfahrungen, wie wir im Stückverlauf lernen. Während das Mobiliar mehrfach neu angeordnet wird, ufern die vorgetragenen Gedankenflüsse mitunter grenzenlos. So ahmt anfangs Paul Michael Stiehler diverse auditive Eindrücke am Hauptbahnhof effektvoll nach.

Das Darstellertrio, das sich gegenseitig mit den realen Vornamen anspricht, fördert alsbald so manche Sollbruchstelle zutage, wird wissenschaftlich, philosophisch, gymnastisch, immer wieder auch albern. So kriechen Stiehler und Alois Reinhardt in Schlafsäcken als Bandwürmer über den Bühnenboden und übereinander, während Sandrine Zenner erklärt, dass Bandwürmer, nachdem sie sich als Parasiten eingenistet hatten, ihr Gehirn zurückentwickelten. Auf genüssliche Grunz- und Pupgeräusche folgt lauter Bassbeat. Es erklingt aus Lautsprecherboxen „Smack my bitch up“ von The Prodigy, und die Herren auf der Bühne springen, geschmückt mit Lichterketten, aus ihren Schlafsäcken. Später tragen sie Langhaarperücken und zeigen nackte Haut, ein bisschen an das Zauberkünstler-Paar Siegfried & Roy erinnernd. Eindrücklich führen die Akteure das Publikum fortan hinters Licht. Was ist echt, was bloß Täuschung?

Alois Reinhardt wird von Sandrine Zenner als rechte Hirnhälfte präsentiert, Paul Michael Stiehler als linke Hirnhälfte. Das Trio arbeitet mit Handkameras und Live-Projektionen. Es hinterfragt mögliche Gewohnheiten – etwa, ob Abkürzungen genommen werden. Dann wird auch grundsätzlich die Glaubwürdigkeit der Sehorgane bezweifelt. Während eifrig mit Tennisbällen jongliert wird, diese dann nach rechts oder links geworfen werden, geht es um geometrisch-optische Täuschungen oder einschlägige Theorien der Kognitionswissenschaften.

Beim geneigten Publikum werden die Sinne und Hirnfunktionen, vorgestellt als Netzwerk aus Milliarden von Synapsen und Neuronen, herausgefordert. Das Ensemble verteilt im Publikum Bier und Apfelschorle. Rund 75 Prozent des Gehirns besteht aus Wasser. Daher stimuliert Flüssigkeit die Hirnwasser, so mag das Ensemble jedenfalls gedacht haben. Gleichzeitig führt bereits geringer Alkoholkonsum zum Abbau von Nervenzellkörpern im Gehirn. Die meisten Zuschauer greifen zur Apfelschorle, obwohl Sandrine Zenner als beschwipste Zeugin einer Zeitenwende auch Alkoholika herausgibt.

Leider sind insbesondere die vorgetragenen Witze etwas abgedroschen. Was sagt der Pinguin in der Wüste: „Hier flutscht es aber nicht.“ Schlüpfrige Witze über katholische Priester wirken dann trotz Zeitgeist altbacken. Deutlich mehr Mut gehört etwa dazu, sich Witze über den Islam zu erlauben.

Im Großen und Ganzen lässt die etwa 90minütige Vorführung über beliebige, subjektive, einem unerschöpflichen Repräsentationsganzen entnommenen Gedanken- und Bilderwelten nachdenken. Dem dynamischen Tempo der Darsteller zum Trotz ermüden die vorgetragenen Theorien alsbald.



Alois Reinhardt und Paul Michael Stiehler in Mnemon am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Ansgar Skoda - 4. Februar 2023
ID 14033
MNEMON (Werkstatt, 03.02.2023)
Regie und Bühne: Simon Solberg
Kostüme: Annika Garling
Licht: Jorge Delgadillo und Ewa Górecki
Dramaturgie: Jan Pfannenstiel
Mit: Alois Reinhardt, Paul Michael Stiehler und Sandrine Zenner
Premiere am Theater Bonn: 3. Februar 2023
Weitere Termine: 08., 10., 230.2./ 02., 10., 16., 25.03.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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