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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Kirche,

Staat

und Militär



Don Carlos am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Thomas Aurin

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Den entscheidenden Satz spricht der Marquis von Posa: „Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.“ Meint er den amtierenden baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der in seiner Jugend begriffen zu haben vorgab, dass der Kapitalismus ungerecht und inhuman ist, der dafür mit einem Berufsverbot bestraft wurde, bald jedoch zusammen mit seiner Gefolgschaft aus der näheren und ferneren Umgebung öffentlich Reue bekundet, die Träume seiner Jugend als „fundamentalen politischen Irrtum“ diffamiert hat, mit einer steilen Karriere belohnt wurde, sich seinerseits mit einem Kniefall vor Kirche, Staat und Deutscher Bahn revanchiert hat und die Forderung einer pauschalen Rehabilitierung von lebenslang geschädigten Betroffenen des Radikalenerlasses mit der Schroffheit eines Renegaten ablehnt? Nein, die Mahnung gilt Friedrich Schillers Don Karlos. Der bezahlt mit dem Leben, bei Schiller durch den Großinquisitor, in Stuttgart neuerdings zusammen mit seiner einstigen Verlobten und aktuellen Stiefmutter Elisabeth von Valois durch einen Schuss aus dem Hinterhalt. Zum Verrat an den Träumen seiner Jugend hat er, anders als der baden-württembergische Ministerpräsident, keine Gelegenheit. Er starb, in der Realgeschichte und als literarische Figur, ehe er Ministerpräsident – pardon: König von Spanien und Portugal werden konnte.

Wovon reden die Leute an den Stammtischen und in den Blogs eigentlich, wenn sie deklarieren, dass man die Klassiker nicht mehr oder eben doch noch spielen könne? Von dem Elisabethaner Shakespeare? Von dem Sturm-und-Drang-Drama Götz von Berlichingen? Von Faust? Von Mutter Courage und ihre Kinder? Von Warten auf Godot?

Dass man Schillers Don Karlos sehr gut spielen, dass man darin ein höchst aktuelles Drama über den totalitären Überwachungsstaat erkennen könne, hat Andrea Breth 2004 eindrucksvoll bewiesen. Und ihre Inszenierung der unheilvollen Allianz von Staat und Religion hat, schaut man nach Afghanistan, dem Iran oder Israel, seither in erschreckendem Ausmaß an Plausibilität gewonnen.

In Stuttgart, wo Don Karlos wieder einmal Don Carlos heißt, hat man damit nichts im Sinn. Nun ist Schillers Jugenddrama vielschichtig und lässt unterschiedliche Lesarten zu. Wofür sich Regisseur David Bösch jenseits des Liebes- und Eifersuchtsdramas und der Kontroverse zwischen Philipp auf der einen und Carlos und Posa auf der anderen Seite interessiert, ist nicht so recht auszumachen. Die Schullektüre erkennt darin einen unüberwindlichen Gegensatz. Philipp ist für sie, wie der Kreon in Antigone, der Repräsentant des absolut Bösen. Für sein Denken und Handeln gibt es keine Begründung und kein Pardon. Den noch abscheulicheren Großinquisitor, einen Nachfahren des Patriarchen aus Nathan der Weise, spielt in Stuttgart eine Frau: Anke Schubert. „Spielt“ ist das falsche Wort. Sie spricht ihn, unsichtbar, aus Boxen. Wenn das nicht bloß ein Akt der Rollenbeschaffung ist oder, schlimmer, ein Zugeständnis an eine unkontrolliert wuchernde Mode, bedeutet es: hinter dem grausamen Patriarchen steht eine noch fürchterlichere Frau. Nicht die „alten weißen Männer“ liefern das Feindbild, sondern die Alten, unabhängig vom Geschlecht. Oder aber Geschlecht von Darsteller*in und Rolle soll in keinen Zusammenhang gebracht werden. Dann bleibt immer noch die Frage, warum das nur am Inquisitor demonstriert wird und nicht an Philipp, Carlos, Elisabeth oder der Prinzessin von Eboli. Gibt es da eine Strategie, oder herrscht Willkür, Beliebigkeit?

David Bösch gehört nicht zu den Stückezertrümmerern. Bei dieser Inszenierung aber kann man den Eindruck gewinnen, als wollte er das Rad der Theatergeschichte um mehr als ein halbes Jahrhundert zurückdrehen. Gespielt wird auf einer fast leeren verdunkelten Bühne mit kaltem Neonlicht, sechs zum Teil umgekippten Stühlen, einem Tisch, einem Schreibtischsessel. Die Darsteller*innen treten in leicht verfremdeter Gegenwartskleidung auf. Sie, allen voran Carlos, sprechen fast durchgängig schnell, atemlos, als wollten sie vergessen machen, dass Schiller Verse geschrieben hat.

Was diesen Abend für den Kritiker, anders als offenbar für das Premierenpublikum, so dröge erscheinen ließ, war die begrenzte Bandbreite an Zwischentönen des Sprechens und der Körpersprache. Inflationär wie einst in Margarethe von Trottas Film Das zweite Erwachen der Christa Klages umarmen sich die Figuren, als gäbe es keine anderen Formen der Zuneigungsbezeugung. Und Felix Strobel in der Titelrolle? Die Lokalpresse ergoss sich in Voraus-Lob, noch ehe die Proben zu Ende gegangen waren. Der Berichterstatter, eher im Alter von Philipp als von Carlos, erinnert sich mit Wehmut an Friedrich-Karl Praetorius bei Peter Palitzsch, aber auch an Christiane von Poelnitz’ Eboli und Johanna Wokaleks Elisabeth bei Andrea Breth oder an Lisa Bitter in dieser Rolle in Hasko Webers Stuttgarter Fassung von 2012.

Der Herzog von Alba ist heute in Stuttgart eher ein komischer Repräsentant des Militärs als ein reaktionärer Intrigant. Da haben wir sie also beisammen: Kirche, Staat und Militär. Der baden-württembergische Ministerpräsident hätte seine Freude daran. Wie in der Wirklichkeit, sind sie es, die überleben.



Don Carlos am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Thomas Aurin

Thomas Rothschild – 15. Januar 2023
ID 14000
DON CARLOS (Schauspiel Stuttgart, 14.01.2023)
Inszenierung: David Bösch
Bühne und Video: Falko Herold und David Bösch
Kostüme: Pascale Martin
Musik: Karsten Riedel
Licht: Jörg Schuchardt
Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger
Mit: Matthias Leia (als Philipp), Frida-Lovisa Hamann (als Elisabeth), Felix Strobel (als Don Carlos), Katharina Hauter (als Eboli), David Müller (als Posa), Michael Stiller (als Alba), Reinhard Mahlberg (als Domingo) und Anke Schubert (als Großinquisitor)
Premiere war am 14. Januar 2023.
Weitere Termine: 17.01./ 01., 05., 15., 23.02./ 05., 11.03./ 10.04.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de


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