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FESTSPIELE REICHENAU 2022

Erst wann's

aus wird

sein

Ein Rückblick (1)



Die FESTSPIELE REICHENAU am Fuße der Rax, unterhalb des Semmerings, wohin Monarchisten und wohlhabende Wiener Bürger um die vorletzte Jahrhundertwende zur Sommerfrische fuhren, sind ein Kind des parteiübergreifenden kulturellen Konservatismus Österreichs. Sie wurden als Reaktion auf das sogenannte Regietheater am damals von Claus Peymann geleiteten Burgtheater gegründet. Hier konnten die verschreckten Zuschauer*innen Jahr für Jahr mehr oder weniger renommierte Schauspieler von der Burg und vom Theater in der Josefstadt, von denen einige schnell zu Stammgästen wurden, bewundern, frei von verstörenden Regieeinfällen, im Bühnenbild des Hausherren und mit vertrautem Repertoire.

Als das langjährige Direktorenehepaar nach finanziellem Kuddelmuddel, das ebenfalls einem nationalen Muster folgt, zeternd aufgab, wurde die namhafte Schauspielerin und Leiterin des Max Reinhardt Seminars Maria Happel zur Nachfolgerin bestellt. Wer sich nun die große Revolution erhofft hatte, sah sich getäuscht. Es fehlen in diesem Jahr im Hauptprogramm zwar die bewährten österreichischen Dramatiker, Schnitzler, Nestroy u.a., ebenso wie die Romanadaptionen, aber weder Tschechow, noch Wedekind, noch Zuckmayer, noch Neil Simon können so recht als Entdeckungen gelten. Einige beliebte Stars sind ausgeblieben, dafür hat Maria Happel Student*innen des Reinhardt Seminars und die eigene Tochter mitgebracht. Die Vorgängerin erklärte mir einmal brüsk, man lege keinen Wert auf Presse, man sei auch ohne Kritiken ausverkauft. Die aktuelle Pressedame beschied mir, man habe die Medien in die Generalproben verbannt – wie ich erfuhr: ohne die Regisseure, die das gar nicht mögen, weil es zwischen Generalprobe und Premiere gelegentlich noch zu erheblichen Änderungen kommt, um Erlaubnis zu fragen. Wie sich zeigte, gab es durchaus privilegierte Kritiker, die zu den Premieren zugelassen waren. Heißt: es existieren für Reichenau Journalisten erster und zweiter Klasse. Frühere Verhältnisse. Die bevorzugten Kritiker erkennt man daran, dass sie bei der Generalprobe nicht gesichtet wurden (man kennt sich ja), aber doch rezensiert haben.

* * *

Die Möwe in der Regie von Torsten Fischer beweist immerhin, dass Tschechow (hier in der Übersetzung von Kay Borowsky) ganz ohne Mätzchen zu fesseln vermag, zumal wenn man, auf Grund der hervorragenden Akustik des Reichenauer Theaters, jedes Wort versteht. Fischer macht aus der Möwe ein Stück über das Theater. Gleich zu Beginn ergänzt Martin Schwab, einer der lang gedienten Reichenauer Publikumslieblinge, die Passage von Arkadinas sympathischem Bruder Sorin um Bemerkungen zu seinen eigenen Sommerengagements am Ort und zur neuen Direktion.

Claudius von Stolzmann ist als Trigorin in dieser soliden Inszenierung kein blasierter Dandy, kein Nachfolger von Eugen Onegin. Man nimmt ihm sogar ab, dass er in Nina verliebt ist, ehe er sie zugrunde richtet. Ein Kritiker (einer von jenen, die die Premiere besuchen durften) beschreibt ihn als einen „weichen, von sich selbst erregten, narzisstischen Dauerschwätzer“. Diese Charakterisierung passt auf Werschinin aus den Drei Schwestern. Auf Trigorin und erst recht auf von Stolzmann trifft sie nicht zu. Der neigt eher dazu, das Leid anderer schweigsam zu instrumentalisieren. Wenn er „von sich selbst erregt“ ist – was wäre dann Konstantin, Arkadinas schriftstellernder Sohn und als solcher eifersüchtiger Rivale von Trigorin? Der wiederum kann einem in seinem infantilen Gefühlsüberschwang nicht wirklich leid tun.

In einem schräg gestellten, von Neonröhren eingerahmten Spiegel sieht man die Figuren, die gerade „außen vor“ sind, ehe sie die Bühne betreten. Immer wieder lässt das statische, zu einem Tableau erstarrte Ensemble die Zeit stehen bleiben, signalisiert es einen Moment des Atemholens.

Der unvermeidliche Walzer aus der Jazz Suite von Schostakowitsch sorgt für Lokalkolorit, Jeans deuten diskret an, dass die Vergangenheit der Gegenwart gleicht (oder umgekehrt).

Nein, diese Möwe fliegt nicht in der selben Liga wie die Möwen von Zadek, Gotscheff, Bondy oder Gosch. Aber wenn man die Latte auf diesem Niveau legt, darf man nach Peter Brooks Sturm keinen Sturm mehr besprechen.

Bewertung:    



Die Möwe von Tschechov - bei den FESTSPIELEN REICHENAU 2022
Foto (C) Lalo Jodlbauer

*

Ginge die Reichenauer Möwe unbeanstandet als Repertoirevorstellung des Theaters in der Josefstadt durch, so wirkt das am gleichen Ort im (nicht mehr ganz) Neuen Spielraum gezeigte Frühlings Erwachen in der Regie von Christian Berkel wie eine jener jährlichen Leistungsbeweise von Schauspielschulen, die bevorzugt von der Verwandtschaft der Studierenden besucht und beklatscht werden. Und in der Tat: man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Maria Happel das Stück aufs Programm gesetzt hat, weil es gleich mehrere Rollen für ihre Reinhardtseminaristen anbietet. Die spielen halt so, wie Schauspielschüler, einige wenige Genies, die eine Schauspielschule eigentlich nicht benötigten, ausgenommen, spielen. Jede Geste gerät eine Spur zu groß, jeder Satz eine Spur zu auswendig gelernt. Ob man damit ein Publikum locken kann, das, bei allem Konservatismus, eine Regina Fritsch, eine Therese Affolter, eine Julia Stemberger, einen Peter Matić, einen Hans Dieter Knebel und nicht zuletzt Maria Happel gewohnt ist? Jedes herablassende Lob mit zugedrückten Augen wäre zwar menschenfreundlich, ginge aber auf Kosten der Redlichkeit.

Der Skandal, den dieses Stück einst ausgelöst hat, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Dass einen die Thematik nicht sonderlich packt, auch nicht als historischer Befund, ist nicht verwunderlich, aber es kommt auch auratisch nichts über den Rand der trapezförmigen Spielfläche. Die jungen Darsteller*innen dürfen demonstrieren, was sie an diversen Musikinstrumenten gelernt haben. Es ist nicht viel. Hätte man darauf verzichtet, hätte es der Inszenierung nicht geschadet. Es reichen die einfachen akrobatischen Übungen an einem herabhängenden Reifen. Und Paul Matić darf von erhöhter Position aus, sich windend, „saying something stupid like I love you“ zitieren. Das erfüllt zwar keinerlei Funktion, aber es klingt schön. Dafür jedenfalls sind nicht die Reinhardt-Student*innen verantwortlich.

Bewertung:    



Frühlings Erwachen von Wedekind - bei den FESTSPIELEN REICHENAU 2022
Foto (C) Lalo Jodlbauer

*

Auf den Tiefpunkt von Frühlings Erwachen folgte mit Des Teufels General von Carl Zuckmayer in der Regie von Hermann Beil das absolute Gegenstück: realistisches Schauspielertheater erster Güte. Es besticht durch die genaue psychologische Zeichnung der Figuren. Die Titelrolle spielt Stefan Jürgens. Man sollte dabei nicht an Curd Jürgens denken und erst recht nicht an Corinna Harfouch. Es ist ja keine ganz leichte Aufgabe, den Menschen im General, den Zweifler im Wehrmachtsoffizier glaubhaft zu machen. Auch dann nicht, wenn man der Legende glaubt, der 20. Juli 1944 sei der Höhepunkt des Widerstand gegen Hitler gewesen. Stefan Jürgens bewältigt die Aufgabe optimal. Die Körpersprache seines Harras ist in jedem Detail selbstbewusst, militärisch und locker zugleich, gelassen, nicht zackig, wie das vor allem durch Hollywood-Filme geprägte Klischee es verlangt. Die Inszenierung vermeidet jede Versuchung, aus dem Stück eines ins Exils gezwungenen Autors eine Hommage auf den „anständigen Nazi“ zu machen. Harras ist zwar General, steht aber in seinen Überzeugungen in Opposition zu Hitlers Politik und Krieg. Sein Ende ist notwendig tragisch. Hermann Beil, der eine spielbare Fassung hergestellt hat, weist zu Recht darauf hin, dass die Nazi-Diktatur zwar untergegangen ist, die Missstände aber, auf die Zuckmayers Drama reagiert, weiterbestehen.

Bewertung:    



Des Teufels General von Zuckmayer - bei den FESTSPIELEN REICHENAU 2022
Foto (C) Lalo Jodlbauer


Thomas Rothschild – 11. Juli 2022
ID 13706
https://www.theaterreichenau.at/de


Post an Dr. Thomas Rothschild

FESTSPIELE REICHENAU 2022 (Teil 2)

ROTHSCHILDS KOLUMNEN

Theaterkritiken



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