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Roman

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„Je älter wir werden, desto mehr verstehen wir, dass alles einfach nur Trial and Error ist, Trial and Error, Trial and Error und wieder von vorne, ohne dass es jemals einen wirklich neuen Anfang gäbe. Es gibt keinen neuen Anfang und keinen zweiten Versuch, keine dritte Person Singular, die einen rettet, keine Alternative. Es gibt nur jetzt und jetzt und das schreckliche Bewusstsein darüber und das süße Vergessen desselben.“ (Kathrin Weßling, Nix passiert, S. 146)

*

Isolation kann belastend sein, triggert Ängste, verstärkt Zwänge. Das weiß Kathrin Weßling, die auf ihrem Twitter-Kanal @ohhellokathrina gerade zur Krise durch das Corona-Virus twittert. Wegen der Verbreitung von COVID-19 müssen viele Menschen mittlerweile alleine Home Office machen; kulturelle Angebote fallen weg. Gerade für Selbstständige, Kulturschaffende und Künstler ist die aktuelle Ungewissheit kaum zu ertragen. Insbesondere Menschen mit psychischer Erkrankung kann erzwungene Einsamkeit beeinträchtigen, so die Social Media-Spezialistin und Poetry Slammerin auf Twitter.

Das Virus spielt in ihrem Roman Nix passiert (2020) noch keine Rolle, obwohl der Glauben an ein mögliches „Zombie-Virus (China!)“ (S. 49) den Vater des Ich-Erzählers zum Hamstern verführt. Der erzählende Protagonist Alexander Trautmann ist Anfang dreißig. Er wurde von seiner Freundin Jenny verlassen. Aus Angst, Jenny oder gemeinsamen Freunden in Berlin wieder zu begegnen, zieht er sich in seine Wohnung zurück. Es ist eine beißende Wehmut und ein wütender Schmerz, der den Protagonisten begleitet:


„Jenny ist ein Haus, eine Festung aus Teflon und Blei, nichts kann ihr was anhaben, kein Schmerz, kein Hass und die Liebe erst recht nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie lieben kann, ob sie weiß, wie das geht, aber mich liebt sie nicht und hat es glaube ich auch nie getan, ach Jenny, wieso tut es so weh, wieso vermisst man jemanden derart, der so grausam zu einem war?“ (S. 151)


Alex geht nicht mehr zur Arbeit. Er trauert bald nicht nur seiner Freundin, sondern auch seiner Jugend hinterher. Die Hoffnungslosigkeit, fehlende Energie und der fehlende Glauben nagen an ihm. Die Flucht in die Resignation wird ihm alsbald als Dauerlösung unbequem. Um den schmerzhaften Gedankenkreisläufen zu entkommen, kehrt er aus Berlin zu seinen Eltern in seinen Heimatort zurück, das Dorf Braus. Begegnungen mit seinen Eltern, seinem Bruder und Freunden von früher erinnern ihn an die Beengtheit des Dorflebens, die von zugezogenen Gardinen und heruntergelassenen Rollläden geprägt ist. Doch langsam erinnert er sich, dass er schon als Jugendlicher Antidepressiva (S. 198) wie Opipramol gegen seine Panikattacken nehmen musste. Er gewahrt, dass die „Kündigung meiner selbst“ (S. 221) schon angefangen hatte, noch bevor Jenny ihn verlassen hatte:


„Sobald ich bei meinen Eltern auf dem Land bin, falle ich in einen komatösen Schlaf, möchte nur noch im Bett liegen, bin müde, müde, müde, immer so müde, die Knochen wiegen zu viel, der Kopf ist zu schwer, mein Körper sehnt die Ruhe offenbar so sehr herbei, dass er augenblicklich, beim Übertreten der Schwelle des Hauses meiner Eltern, in sich zusammensackt, krank wird, eine Erkältung oder ein anderer Infekt, irgendwas ist immer.“ (S. 148)


Es sind Momente der Einkehr, der Langsamkeit und der Stille, an denen Alex auch langsam zu neuer Kraft findet. Er kehrt an Orte zurück, an denen er nicht alleine war. Hierhin folgt ihm seine Angst nicht sofort. Er spricht mit Wegbegleitern aus der Schulzeit und mit seinen Eltern. Er kommt an einem möglichen Wendepunkt in seinem Leben an. Es bleibt spannend, welche Schritte er gehen wird.

In der Wochenzeitung Die Zeit begab sich eine Kritikerin auf dünnes Eis, indem sie Weßlings männliche Perspektive in Nix passiert als unglaubwürdig kritisierte. Viele Gedanken des Protagonisten ließen auf eine weibliche Figur schließen, so die Rezensentin. In Zeiten der kritischen Heteronormativitätsforschung ist dies ein ärgerlicher weil anachronistischer Vorwurf. Natürlich gibt es genug Männer um die dreißig, die sich wie Weßlings Protagonist mit Sylvia Plaths Bekenntnislyrik beschäftigt haben, Yogafiguren üben oder Songs von Florence + the Machine mögen. Man kennt männliche Gegenwartsautoren, die aus weiblicher Perspektive erzählen, zur Genüge. Feridun Zaimoglu erhob es mit seiner Die Geschichte der Frau sogar zur Kunst, bewusst aus weiblicher Perspektive zu erzählen und Frauen so eine höchsteigene Stimme zu verleihen. In Nix passiert ist es geradezu erfrischend und reizvoll endlich mal wieder eine Frau zu lesen, die durchaus gelungenen und authentisch aus einer männlichen, manchmal ironisch gebrochenen Perspektive schreibt.

* *

Nix passiert ist genau wie Kathrin Weßlings starkes Debüt Super und dir? ein unbequemer, frecher und einfühlsamer Roman über eine Lebenskrise. Es sind kunstvolle Bilder, die das Weiterlesen zum Genuss werden lassen, obwohl auf reiner Handlungsebene eben nicht viel passiert. Viele Schilderungen sind schmerzhaft, zeugen jedoch von kraftvollem Lebenswillen. Zahlreiche Dialoge, eingebaute Songlyrics oder Einwürfe in Großschrift lenken von den oft originellen, manchmal aber arg pessimistisch-selbstkritischen Bewusstseinsströmen des Protagonisten ab. Zu guter Letzt wartet der Schluss recht unprätentiös mit einer starken Pointe auf. Sehr lesenswert, insbesondere für Phobiker in belastenden sozialen Situationen oder Menschen mit Panik in Zeiten der Corona-Krise.


Ansgar Skoda - 17. März 2020
ID 12089
Ullstein-Link zu Nix passiert


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