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„Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“ (Saša Stanišić, Herkunft, S. 37)

*

Es geht hier nicht mehr um Wahrheit. Die Wahrheit ist immer subjektiv, auch wenn es um die eigene Herkunft geht. Saša Stanišić schreibt in seinem Werk Herkunft (2019) autofiktional, also autobiografisch mit fiktionalen Handlungselementen. Dabei spielt er mit seiner Biografie. Er erweitert sie um Details, Anekdoten, andere Erzählungen. Die Schwierigkeit des Beginns von Geschichten liegt offen. „Was ist das für ein Buch? Wer erzählt?“ fragt Stanišić auf Seite 228. Durch dieses Spiel mit einer vermeintlich nicht eindeutigen Erzählinstanz erzeugt der 41jährige beim Leser ein Sich-Einfühlen in eine fehlende Verortung und Heimatlosigkeit. Stanišić kommt aus einem Land, das es heute nicht mehr gibt. Der Schriftsteller wurde 1978 in Višegrad geboren. Sieben kleinere Länder liegen heute dort, wo früher Jugoslawien war. Mit 14 floh Stanišić mit seinen Eltern während des Bosnienkrieges nach Heidelberg. Er floh aus einem alten Dorf mit nur wenigen Einwohnern. Nur die Großmutter blieb zurück. Von dem Verlust des Dorfes und auch der Großmutter erzählt Stanišić mit leichter Hand. Er entwirft so ein großes Panorama von einer Gemeinschaft, in der familiärer Zusammenhalt und die Zugehörigkeit zu Traditionen oftmals noch einen anderen Stellenwert haben, als bei uns.

Dabei reiht er sich in eine Tradition großer Vorgänger ein. Mehrfach erwähnt Stanišić den jugoslawischen Schriftsteller Ivo Andrić und dessen nobelpreisgekröntes Werk. Wer Andrićs historische Romane wie Die Brücke über die Drina (1945) gerne gelesen hat, wird sehnsuchtsvolle Beschreibungen Višegrads bei Stanišić wieder entdecken:


„Auf den Fotos hält der junge Soldat sich in Višegrad an Orten auf, an denen auch ich irgendwann gewesen bin. Die Drina ist immer da, unerschüttert selbstverständlich. Ein provisorischer Holzsteg verbindet die weißen Bögen der teils zerstörten alten Brücke.“ (S. 171)


Neben den berühmten Orten Višegrads kommen auch Schlangen als wiederkehrendes Motiv in Herkunft vor. Sie stehen vielleicht für die Vertreibung aus dem Paradies, vielleicht aber auch für das Lauern des Ungewissen, das da noch kommen mag. Es schwingt bei den Detailbeobachtungen stets eine leise und schmerzhafte Melancholie mit, angesichts des Verlustes der Heimat:


„Unbeschwert ist an Višegrad für mich kaum ein Ort mehr. Kaum eine Erinnerung nur persönlich. Kaum eine kommt ohne Nachtrag, ohne eine Fußnote von Tätern und Opfern und Gräueltaten, die sich dort abgespielt haben. […] Meine Kindheit lässt sich nicht anders als dissonant erzählen. Ein Ball im Feuer ist nicht bloß ein Ball im Feuer. Im Wald hat man sich nicht bloß im Spiel versteckt. Ich habe mir diese Motive gesucht.“ (S. 197)


Stanišić fühlt sich mit großer Sensibilität in seine Figuren ein. Er erwähnt andere Schicksale, die mit seinem entfernt verbunden sein könnten:


„Im April 1992 stieg ein unrasierter Mann in Camouflage-Uniform auf das Dach eines Hauses in Sarajevo und verschoss ein ganzes Magazin in Richtung Sonne, weil ihm zu heiß war an diesem Tag. Er bekreuzigte sich, oder er sah auf Knien gen Mekka und sagte: „Friede sei mit euch.“ Dann kletterte er vom Dach, packte seinen Rucksack und zog in die Berge, und das war der Krieg.“ (S. 117)


Stanišić springt zwischen den Zeiten und Orten. Mal berichtet er über Aufenthalte in Višegrad, mal über solche in Deutschland. Im Verlauf des Werkes wird deutlich, das sich Stanišić heute als Teil von Deutschland begreift. Es war nicht sein Wunsch, als Kind hierher zu kommen. Doch nun ist er hier und es ist nun einmal so. Er schreibt über den Erwerb der neuen Sprache warmherzig, intuitiv und sensibel. Er schafft dabei sogar Wortneuschöpfungen:


„Es gibt kein Wort für alle Wörter. Wenn es eines gäbe, ein Wort für alle Wörter, könnte es nur etwa drei Sekunden lang existieren. Im Schnitt alle drei Sekunden wird ein neues Wort erfunden, das die Gesamtheit aller Wörter beeinflusst und das eine Wort für alle Wörter ungültig macht. Das Wort für alle Wörter ist nach drei Sekunden veraltet und der Bedeutung beraubt vom ständigen Drang zur Neuverwortung. Neuverwortung! Und schon ist es weg, schon weg, das Wort für alle Wörter.“ (S. 228)

* *

Saša Stanišić erhielt für Herkunft in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis, und (wie viele meinen) zurecht. Nicht nur in seinem Werk, auch bei seiner Rede zur Preisverleihung wusste Stanišić zu überraschen. So griff er offen Peter Handke an, der 2019 kurz zuvor als elfter deutscher Autor den Literaturnobelpreis erhielt. Stanišić warf diesem vor, unreflektiert mit der Vergangenheit umzugehen und die Gräuel um den Krieg im zerfallenen Jugoslawien zu leugnen. So entfachte sich eine Diskussion in den Feuilletons. Wird Handke, der sich selbst um die deutsche Literatur verdient machte und selbst auch mit einer slowenischen Mutter komplex in die Vergangenheit der Jugoslawienkriege verstrickt ist, hierzu bei seiner Dankesrede am 10. Dezember Stellung beziehen?

Die Fragen, die Stanišićs Werk aufwirft, haben in gewissem Sinne eine Allgemeingültigkeit. Es gibt heutzutage viele Menschen, die ihre Heimat verloren haben. Sie müssen vieles neu lernen; allen voran die Sprache. Ihnen gibt Stanišić teils recht experimentell (die letzten sechzig Seiten laden zu einem Rollenspiel ein) eine Stimme, ohne dass sein abschweifender Stil je zu gekünstelt wirkt.


Ansgar Skoda - 23. November 2019
ID 11838
Luchterhand-Link zur Herkunft von Saša Stanišić


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